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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Gliedmaßen zu schützen bzw. um sich warm zu halten. Die Trecks bewegten sich l<strong>an</strong>gsam <strong>und</strong> mit<br />

ständigem Halt. Daher lief m<strong>an</strong> nicht immer mit dem eigenen Wagen in gleicher Höhe.<br />

Wiederholt gab es auch Beschuss durch Flugzeuge <strong>und</strong> Artillerie, so dass m<strong>an</strong> Schutz im Straßengraben<br />

suchen musste. Zum Verhängnis wurde vielen, wenn durch die Wehrmacht ein Treck<br />

schlagartig umgeleitet werden musste, weil es in bisheriger Richtung kein Weiterfahren mehr gab.<br />

So erging es auch dem Opa Thieler. Er merkte gar nicht, dass sich der Treck geteilt hatte <strong>und</strong> er<br />

mit einem <strong>an</strong>deren Kolonnenteil mitlief. Als es d<strong>an</strong>n zum Stillst<strong>an</strong>d kam <strong>und</strong> er zu seinem Wagen<br />

wollte, f<strong>an</strong>d er ihn nicht mehr. Er hat, sol<strong>an</strong>ge wir noch in <strong>Ostpreußen</strong> waren, nie in Erfahrung bringen<br />

können, was mit dem Treck passiert war <strong>und</strong> ob der Schwiegertochter die <strong>Flucht</strong> gelungen<br />

war. M<strong>an</strong> musste aber davon <strong>aus</strong>gehen, dass der Treck das Reich nicht erreicht hat. Opa Thieler<br />

hatte u. a. einen Sohn in Berlin, ein <strong>an</strong>derer wohnte in Eilenburg. Beide Adressen waren auch der<br />

Schwiegertochter bek<strong>an</strong>nt. Da ich für ihn Briefkontakt mit beiden gesucht habe, kam es 1946 zu<br />

einem Schriftverkehr mit dem Sohn <strong>aus</strong> Eilenburg. Dieser Sohn holte den Vater im J<strong>an</strong>uar 1947<br />

<strong>aus</strong> dem Quar<strong>an</strong>tänelager Torgau ab. Auch sie hatten über den Verbleib der Schwiegertochter<br />

nichts in Erfahrung bringen können, trotz Suchdienst.<br />

Auch hierzu eine Ergänzung: Nachdem <strong>Ostpreußen</strong> vom Reich abgeschnitten war, es also keinen<br />

L<strong>an</strong>dweg mehr für eine <strong>Flucht</strong> gab, war die einzige Möglichkeit, mit den Trecks über das Frische<br />

Haff zur Frischen Nehrung zu gel<strong>an</strong>gen. Dort musste m<strong>an</strong> alles zurücklassen <strong>und</strong> versuchen, mit<br />

einem Schiff wegzukommen. Das Frische Haff war zu dieser Jahreszeit vollständig zugefroren <strong>und</strong><br />

die Eisdecke so dick, dass sie Fuhrwerke tragen konnte. Die Wehrmacht steckte Fahrspuren ab<br />

<strong>und</strong> es gel<strong>an</strong>g vielen, die Nehrung zu erreichen. Allerdings muss auch bemerkt werden, dass die<br />

Sowjets sich hierbei unmenschlich verhalten haben. Obwohl es eindeutig erkennbar war, dass es<br />

zivile Kolonnen waren, gab es ständig Tiefflieger<strong>an</strong>griffe <strong>und</strong> auch Beschuss durch Artillerie, nicht<br />

wenige vers<strong>an</strong>ken mit ihren Pferden <strong>und</strong> Wagen im eiskalten Wasser des Haffs. Die Schätzung<br />

geht von mehreren Zehnt<strong>aus</strong>end <strong>aus</strong>, viele sind auch bei der Schiffsüberfahrt versenkt worden.<br />

Aber nun zurück zur Situation im April 1945 in Hoofe bzw. unserem jetzigen etwas <strong>an</strong>deren Alltag.<br />

Da die stationären sowjetischen Militäreinheiten immer weniger wurden, ließen auch die Belästigungen<br />

nach. Sie wurden seltener, <strong>an</strong> der Art hatte sich nichts geändert. Es gab weiterhin Raubzüge<br />

<strong>und</strong> die Suche nach etwas Brauchbarem, dazu die Belästigung <strong>und</strong> Vergewaltigung der<br />

Frauen. Wir versuchten immer wieder, mit <strong>an</strong>deren Deutschen Kontakt aufzunehmen, um eventuell<br />

etwas von unseren vermissten Angehörigen zu erfahren. Dabei kam uns entgegen, dass immer<br />

häufiger Geflüchtete, die weiter westlich von der Roten Armee überrollt worden waren, in ihre Heimatdörfer<br />

zurückkehrten. Bei uns kam zu dieser Zeit nie der Ged<strong>an</strong>ke auf, dass <strong>Ostpreußen</strong> eines<br />

Tages von Deutschl<strong>an</strong>d abgetrennt werden könnte. Wir hatten aber auch nicht die Absicht, nach<br />

Eydtkau zurückzukehren. Gr<strong>und</strong>sätzlich wollten wir uns nicht weiter Richtung Osten bewegen. Die<br />

Angst, nach Russl<strong>an</strong>d verschleppt zu werden, steckte ged<strong>an</strong>klich immer noch im Hinterkopf.<br />

Vom Verbleib unseres Vaters konnten wir weiterhin nichts erfahren. Von Helmut wussten wir seit<br />

dem Wegg<strong>an</strong>g von Reddenau bzw. seinem Einsatz in der Viehpflegestation auch nichts mehr. Wir<br />

beobachteten, wie immer häufiger kleine Gruppen von Deutschen auf der Straße Richtung L<strong>an</strong>dsberg,<br />

von Heilsberg kommend, unterwegs waren. Eines Tages sollten wir Glück haben. Es kam<br />

wieder einmal eine kleine Gruppe, wir nahmen Kontakt auf, fragten nach dem Woher <strong>und</strong> Wohin<br />

<strong>und</strong> erk<strong>und</strong>igten uns auch, ob sie vielleicht einem Helmut Marks begegnet sind. Eine Frau <strong>an</strong>twortete<br />

sofort in plattdeutsch: „Ach det Helmutke, der ess noch in Powarschen, bei de Familie<br />

Kämpfert, dem geit et goot!“<br />

Powarschen war ein großes Gut, etwa zehn Kilometer von uns entfernt. Dort hatten die Sowjets ein<br />

großes Pferdelazarett eingerichtet. Verletzte Pferde wurden <strong>aus</strong>kuriert <strong>und</strong> für den Abtr<strong>an</strong>sport in<br />

die Sowjetunion vorbereitet. Ende April bzw. Anf<strong>an</strong>g Mai wurden die letzten Pferde abtr<strong>an</strong>sportiert<br />

<strong>und</strong> das Lazarett geschlossen. Da Helmut nicht wusste wohin, verblieb er in Powarschen. Dort gab<br />

es mehrere Gleichaltrige <strong>und</strong> wegen seiner allgemein beliebten Art hatte ihn eine Familie aufgenommen.<br />

Durch so einen Zufall f<strong>an</strong>den wir Helmut wieder. Heute könnte ich sagen: Wir waren zur<br />

richtigen Zeit am richtigen Ort.<br />

Am nächsten Tag machten wir uns natürlich gleich auf den Weg nach Powarschen, meist über<br />

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