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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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<strong>und</strong> Wlader besaß noch einen H<strong>und</strong>. Die dritte Familie besaß nichts von alledem <strong>und</strong> verhielt sich<br />

immer bescheiden.<br />

Von offizieller Seite sah m<strong>an</strong> nicht gern, dass Polen mit Deutschen eine engere Beziehung aufbauten,<br />

aber insgesamt entwickelt sich zu diesen Menschen ein fast fre<strong>und</strong>schaftliches Verhältnis in<br />

gegenseitiger Achtung. Wir hatten beide unter den Russen gelitten, sie waren <strong>aus</strong> ihrer Heimat<br />

vertrieben worden, uns st<strong>an</strong>d das noch bevor. Das wusste m<strong>an</strong>, somit hatten wir ein ähnliches Los.<br />

Wir Deutschen ersehnten eigentlich den Zeitpunkt einer Übersiedlung ins „Reich“, denn eine Zukunft<br />

gab es für uns ohnehin nicht mehr in <strong>Ostpreußen</strong>. Wir waren auch von den Erlebnissen zu<br />

sehr belastet.<br />

Die vertriebenen Polen konnten sich nur schwer <strong>an</strong> die neuen Bedingungen <strong>an</strong>passen <strong>und</strong> sahen<br />

für sich auch keine richtige Zukunft. Das äußerte sich u. a. darin, dass trotz reichlich zur Verfügung<br />

stehenden Bodens nur so viel bewirtschaftet wurde, dass es gerade für die eigene Gr<strong>und</strong>versorgung<br />

reichte. Diese Einstellung hielt l<strong>an</strong>ge <strong>an</strong>. Zu Beginn wurde gar nichts gemacht. Begünstigt<br />

wurde das dadurch, dass die Polen in der ersten Zeit Konserven <strong>und</strong> <strong>an</strong>deres von der UNRRA erhielten,<br />

ebenso Saatgut <strong>und</strong> im Frühjahr 1946 sogar Pfl<strong>an</strong>zkartoffeln. Alles kam <strong>aus</strong> den USA. Die<br />

Kartoffeln hatten allerdings auf dem Schiffstr<strong>an</strong>sport sehr gelitten <strong>und</strong> sind vermutlich auch mit der<br />

Bahn sehr l<strong>an</strong>ge unterwegs gewesen. Die Abholung durch die Bauern erfolgte in Heilsberg. Hier<br />

endete auch die wieder in Betrieb genommene Eisenbahn. Dort lagerte ein Riesenberg stinkender<br />

<strong>und</strong> z. T. verfaulter Kartoffeln. Beim Her<strong>aus</strong>lesen noch brauchbarer Kartoffeln mit den Händen kam<br />

stets Brechreiz auf. Ich begleitete die Sawkos dabei. Für das Saatgetreide hatten die meisten Polen<br />

einen besonderen Einfall. Das Getreide war gebeizt, also in dieser Form für den menschlichen<br />

Verzehr nicht geeignet. M<strong>an</strong> hatte die Beize auch rot eingefärbt. Die Polen wuschen <strong>und</strong> trockneten<br />

es, <strong>und</strong> machten es so für den Verzehr wieder genießbar. Es kam <strong>an</strong>teilig nur wenig in den Boden.<br />

Die UNRRA übrigens war eine Org<strong>an</strong>isation, die bereits 1943 in den USA gegründet wurde<br />

<strong>und</strong> u. a. für Flüchtlingsprobleme zuständig war. Sie wurde 1947 bereits wieder aufgelöst. M<strong>an</strong> unterstellte<br />

den USA, dass sie mit politischen Absichten gegründet worden war.<br />

Mit der Ansiedlung der Polen normalisierte sich in der zweiten Sommerhälfte l<strong>an</strong>gsam die Situation.<br />

Wir fühlten uns in dem neuen Umfeld etwas geschützt. Die wenigen Zentralpolen konnten sich<br />

uns gegenüber nicht mehr so aggressiv verhalten. Die Russen dominierten nur noch, wenn sie in<br />

größeren Gruppen unterwegs waren. Doch d<strong>an</strong>n passierte es einmal, dass ein größerer Trupp im<br />

Vorbeigehen in unser H<strong>aus</strong> kam <strong>und</strong> Mutter vergewaltigen wollte. Sie klammerte sich <strong>an</strong> Werner<br />

<strong>und</strong> mich <strong>und</strong> ließ sich nicht wegreißen. D<strong>an</strong>n gaben sie auf, als sie sahen, dass die g<strong>an</strong>ze Küche<br />

<strong>und</strong> ich voll Blut waren. Als ich nämlich den Trupp <strong>aus</strong> der Ferne kommen sah, beobachtete ich, ob<br />

er tatsächlich <strong>an</strong> der Weggabelung zu uns abbog. Ich war barfuß <strong>und</strong> trat dabei in eine im Gras liegende<br />

zerbrochene Glasflasche. Dabei zog ich mir eine tiefe Schnittw<strong>und</strong>e zu, das Blut spritzte regelrecht<br />

her<strong>aus</strong>, <strong>und</strong> so sah auch die Küche <strong>aus</strong>.<br />

Kurz nachdem die Russen weg waren, erschien Wladers Bruder Ludwig, aufgeregt <strong>und</strong> voller Wut<br />

auf die Russen. Ob er die Russen vorher schon beobachtet hat, weiß ich nicht. Unter seiner Jacke<br />

holte er sein Offizierspatent von der polnischen Armee hervor <strong>und</strong> brachte es in einen Zusammenh<strong>an</strong>g<br />

mit den Ereignissen in Katyn. Katyn war ein Ort im früheren östlichen Polen, wo die Sowjets<br />

T<strong>aus</strong>ende polnische Offiziere erschossen hatten <strong>und</strong> dieses Verbrechen der deutschen Wehrmacht<br />

<strong>an</strong>lasteten. Wir k<strong>an</strong>nten bisher nur diese Version <strong>und</strong> erst viel später erfuhren wir, dass es<br />

tatsächlich die Sowjets waren. Ludwig muss diesem Massaker irgendwie entkommen sein. Sein<br />

Vorhaben, uns in dieser Situation beschützen zu wollen, war mehr als ein Wagnis.<br />

Noch ein Erlebnis <strong>aus</strong> der Zeit, als die polnische Miliz die Ordnung wieder herzustellen versuchte.<br />

Uns Deutschen gegenüber gab es allerdings erhebliche Abstriche. Selbst die Milizoffiziere unterschieden<br />

sich kaum von ihren Untergebenen. Im Gegenteil: Sie gingen allein auf Diebestour, sodass<br />

es keine Zeugen gab. Andererseits gab es auch offiziell eine polnische „Liquidierungskommission“,<br />

obwohl es kaum noch etwas zum Liquidieren gab. Die L<strong>an</strong>dsberger Miliz war zuständig<br />

für den Bereich Hoofe bzw. unsere Wohnregion. Eines Tages erschien ein Milizoffizier in unserem<br />

H<strong>aus</strong> <strong>und</strong> suchte nach Beute. Als er in unser Wohnzimmer trat, f<strong>an</strong>d sein Vorhaben schlagartig ein<br />

Ende. Von einem großen Bild <strong>an</strong> der W<strong>an</strong>d schaute ihn der „gekreuzigte traurige Jesus“ <strong>an</strong>. Als<br />

guter Katholik kniete er nieder, bekreuzigte sich <strong>und</strong> fragte nur, ob wir auch katholisch sind. Er zog<br />

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