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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

von d<strong>an</strong>nen, nahm natürlich nichts mit. Wenige Tage später erschien er wieder, um das Bild gegen<br />

ein Brot einzut<strong>aus</strong>chen. Natürlich wurde das von uns akzeptiert. Wir hätten ohnehin nicht verhindern<br />

können, wenn er das Bild mitgenommen hätte. Tage später erschien er wieder, jetzt zum Beute<br />

machen. Kein Heiliger konnte mehr zuschauen oder Zeuge sein, er hatte freie H<strong>an</strong>d. Später erfuhren<br />

wir von einer jungen Frau, die bei der Familie in L<strong>an</strong>dsberg Schneiderarbeiten durchführte,<br />

dass er sich vor <strong>und</strong> nach jeder Diebestour vor dem Bild bekreuzigte. Damit waren ihm sicher seine<br />

Sünden vergeben. Wir hatten übrigens dieses Bild <strong>und</strong> ein zweites mit dem Abendmahl vor längerer<br />

Zeit vom Grafschen Gr<strong>und</strong>stück mitgenommen. Beide Bilder hingen dort noch <strong>an</strong> der W<strong>an</strong>d.<br />

Selbst die stets plündernden russischen Soldaten hatten sie nicht <strong>an</strong>getastet. Als wir im Dezember<br />

1946 zur Ausreise aufbrachen, gaben wir das Bild mit dem Abendmahl Ludwig Sawko.<br />

Im Jahr 1997 machten wir eine Masurenreise. Ich wollte die Orte aufsuchen, die ich <strong>aus</strong> den Jahren<br />

der <strong>Flucht</strong> <strong>und</strong> des Ringens ums Überleben in Erinnerung hatte. Wir suchten auch Kontakt zu<br />

den Nachfahren der Sawkos <strong>und</strong> unterhielten uns l<strong>an</strong>ge mit einem Enkel von Ludwig. Er k<strong>an</strong>nte alle<br />

Einzelheiten <strong>aus</strong> jener Zeit <strong>und</strong> konnte uns auf Anhieb einordnen. Er sagte mit Stolz, dass er<br />

jetzt das Ölgemälde von seinem Opa hat <strong>und</strong> bot <strong>an</strong>, es uns zu geben oder wenigstens zu zeigen.<br />

Natürlich sollte er das Bild behalten, zumal es uns ja auch nicht gehörte <strong>und</strong> für ihn ein Stück Erinnerung<br />

<strong>an</strong> seinen Opa war. Es dürfte eine Ausnahme sein, dass das Bild noch dort hängt, wo der<br />

ursprüngliche deutsche Besitzer es hingehängt hatte.<br />

Doch zurück zum Alltag: Ich schrieb bereits, dass ich h<strong>an</strong>dwerklich recht begabt war <strong>und</strong> mich trotz<br />

meines Alters von knapp 14 Jahren in fast allen Gewerken zurechtf<strong>an</strong>d. Und das ohne viel Werkzeug.<br />

Das beg<strong>an</strong>n mit der Reparatur der Schuhe <strong>und</strong> Stiefel der Sawkos. Bei vier Kindern in Ludwigs<br />

Familie war immer etwas kaputt. In dieser Zeit gab es in Hoofe <strong>und</strong> L<strong>an</strong>dsberg weder einen<br />

Schuhmacher noch <strong>an</strong>dere Gewerke. Es gab nur eine Bedingung für meine Dienstleistung: Leder<br />

zum Besohlen des Schuhwerks musste jeder mitbringen. Aber das war kein Problem, alte Pferdegeschirre<br />

<strong>und</strong> <strong>an</strong>deres Lederzeug waren immer zu finden. Ich habe bei den Schuhreparaturen alles<br />

gemacht. So u. a. das Besohlen, neue Absätze, Riester aufsetzen u. Ä. Am häufigsten mussten<br />

Nähte erneuert werden. Besonders <strong>an</strong>spruchsvoll war Wlader bei seinen Stiefeln. Da durfte kein<br />

Täks, sprich Nagel, in die Sohle. Ich durfte nur mit Holzspeilen besohlen. Holzspeile sind Stifte etwa<br />

im Querschnitt eines Streichholzes. Auch die musste ich selbst <strong>aus</strong> Buchenholz <strong>an</strong>fertigen. Bei<br />

Wladers Stiefeln machte das Besohlen keinen Spaß. Es war so viel Erde im Stiefel, die ich regelrecht<br />

her<strong>aus</strong>stemmen musste. Entlohnt wurde ich meist mit Lebensmitteln, z. B. Eiern. Seltener<br />

war die Bezahlung eine UNRRA-Konservenbüchse o. Ä. <strong>und</strong> nur in Ausnahmen gab es ein paar<br />

Zlotys. Geld hatten die Polen selbst kaum <strong>und</strong> falls doch, hatte eine kleine Flasche „Polski Monopol<br />

Wodka“ den Vorr<strong>an</strong>g.<br />

Die Sawkos empfahlen mich weiter <strong>und</strong> die Lederarbeiten erweiterten sich auf die Reparatur von<br />

Pferdegeschirren. Am häufigsten waren es Näharbeiten. Unter den Polen sprach sich bald herum:<br />

H<strong>an</strong>tschik (H<strong>an</strong>s) k<strong>an</strong>n alles. Ich setzte bald auch Milchschleudern zusammen, die die Polen nicht<br />

k<strong>an</strong>nten <strong>und</strong> die auf vielen H<strong>aus</strong>böden zu finden waren.<br />

Auch Uhren „baute“ ich selbst. In den ersten Monaten des Jahres 1945 war die einzige Zeitmessung<br />

der Sonnenst<strong>an</strong>d. Später wurde das mit einer Sonnenuhr schon etwas genauer, zumindest<br />

was die Mittagszeit 12.00 Uhr betraf. Auf dem Hof wurde ein Pfahl eingeschlagen <strong>und</strong> mit einem<br />

Magneten eines Radiolautsprechers das Zifferblatt einer Uhr in die Nord-Südrichtung justiert. Ein<br />

großer Nagel warf den Schatten <strong>und</strong> wir hatten eine Richtzeit. Später wurde das Inst<strong>an</strong>dsetzen von<br />

Uhren, meist Wecker, fast zum Hobby. Ich hatte schon wiederholt erwähnt, dass die Russen in ihrer<br />

Zerstörungswut alles durch die Fenster geworfen hatten. In diesen Haufen f<strong>an</strong>d ich mehrfach<br />

beschädigte oder demolierte Wecker. Bei den meisten war die „Unruhe“ entweder zerbrochen oder<br />

oft auch nur <strong>aus</strong> ihrer Lagerung gesprungen. Der erste inst<strong>an</strong>d gesetzte Wecker wurde bei uns<br />

nicht alt. Wir hatten wieder einmal einen „Russenbesuch“ spät abends, wir waren bereits zum<br />

Schlafengehen <strong>aus</strong>gezogen. Den Wecker hatte ich zwar unter meinen Sachen versteckt, aber einer<br />

f<strong>an</strong>d ihn doch. Und so wechselte mein erster funktionsfähiger Wecker schnell seinen Besitzer.<br />

Da die meisten Wecker wegen der zerbrochenen Unruhen nicht reparaturfähig waren, kam ich auf<br />

den Ged<strong>an</strong>ken, statt der fehlenden Unruhe ein kleines Pendel <strong>an</strong> dem sogen<strong>an</strong>nten Anker <strong>an</strong>zubringen,<br />

das den G<strong>an</strong>g <strong>und</strong> die Zeitjustierung ermöglichte. Dies funktionierte nur, wenn die Uhr<br />

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