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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

dem Bahnhof, wie vorher <strong>an</strong>gekündigt. Alle Mitfahrer ohne Platz im Zug mussten zum Bahnhof zurück<br />

laufen. Wieder einmal Glück gehabt, es ging jetzt in Richtung Halle.<br />

Abenteuer zweiter Akt! Der Zug setzte sich bald in Bewegung <strong>und</strong> nahm Geschwindigkeit auf. Das<br />

waren kaum mehr als 60 km/h. Übrigens: Damals gab es gr<strong>und</strong>sätzlich nur Dampflok<strong>an</strong>trieb. Nach<br />

einiger Zeit wollte ich mich <strong>aus</strong> meiner Zw<strong>an</strong>gslage befreien, kletterte während der Fahrt durch das<br />

Fenster nach außen, weiter über Puffer <strong>und</strong> Kupplung zum Trittbrett der <strong>an</strong>deren Wagenseite. Das<br />

war die Sonnenseite, auf der m<strong>an</strong> den kalten Fahrtwind weniger spürte. Als ich fast drüben war<br />

<strong>und</strong> um die Wagenecke schaute, st<strong>an</strong>den zwei Bahnpolizisten etwa zwei Meter von mir entfernt auf<br />

dem Trittbrett. Zum Glück haben sie mich nicht gesehen. Wie schnell ich wieder auf der <strong>an</strong>deren<br />

Seite war <strong>und</strong> vor meiner Tür st<strong>an</strong>d, muss ich nicht weiter kommentieren. Am nächsten Bahnhof<br />

entfernten sie sich, zum Glück auch nach der <strong>an</strong>deren Seite <strong>und</strong> für die Weiterfahrt hatte ich einen<br />

Sitzplatz auf einem Puffer. Zu H<strong>aus</strong>e in Bad Lauchstädt überraschten mich die Neuigkeiten von<br />

Helmut, über die ich schon berichtete.<br />

Unsere Versorgungslage verbesserte sich mit der Ernte 1947 zunehmend. Täglich gingen wir Ähren<br />

lesen, droschen das Getreide in einem Sack <strong>aus</strong>, reinigten es d<strong>an</strong>n ordentlich <strong>und</strong> konnten es<br />

in einer nahe gelegenen Mühle gegen Mehl eint<strong>aus</strong>chen. Als die Kartoffeln geerntet waren, gingen<br />

wir Kartoffeln stoppeln, d. h. die beim Ernten in der Erde verbliebenen Kartoffeln wurden her<strong>aus</strong>geholt.<br />

Das Gleiche geschah d<strong>an</strong>n auch später mit den Möhren. Im Spätherbst folgten die Zuckerrüben,<br />

<strong>aus</strong> denen Sirup gekocht wurde. Mutter war von früh bis abends auf den Äckern, sie hatte ja<br />

auch keine <strong>an</strong>deren Verpflichtungen.<br />

Meine berufliche Entwicklung<br />

Irgendw<strong>an</strong>n musste ich <strong>an</strong> meine Zukunft denken. Mutter drängelte wiederholt, dass ich mir Arbeit<br />

suchen soll. Aber ihr ging es nicht um meine berufliche Perspektive, sondern mehr um die fin<strong>an</strong>zielle<br />

Versorgung. Unser Geld wurde knapp. Ich bekam von Mutter keine Unterstützung bei der Arbeitssuche,<br />

das war nach ihrer Meinung mein Problem.<br />

Von der Ferne sah ich immer wieder die qualmenden Schornsteine der chemischen Großbetriebe<br />

Buna <strong>und</strong> Leuna. „Nie geh ich dort hin, ich will mich nicht vergiften lassen“, sagte ich immer wieder.<br />

Es dürften jedoch meine <strong>aus</strong>geprägten Hemmungen gewesen sein, die mich hinderten dort<br />

vorzusprechen. Irgendw<strong>an</strong>n überw<strong>an</strong>d ich mich <strong>und</strong> fuhr nach Buna, dem näher gelegenen Betrieb.<br />

Am 1. Oktober 1947 nahm ich eine Tätigkeit als Tr<strong>an</strong>sportarbeiter im Eisenbahnbetrieb des<br />

Werkes auf. Da ich keinen Schulabschluss <strong>und</strong> auch keinen Beruf hatte, konnte ich nicht wählerisch<br />

sein. Auf meinem Arbeitsvertrag st<strong>an</strong>d „Werkshelfer“. Obwohl ich noch keine 16 Jahre alt<br />

war, verl<strong>an</strong>gte m<strong>an</strong> damals keine Unterschrift der Mutter. Es war eben noch eine nahezu gesetzlose<br />

Zeit.<br />

Eine Anmerkung zum damaligen Status der Bunawerke: Nach dem Willen der Siegermächte sollten<br />

alle Betriebe, die in die militärische Rüstung Deutschl<strong>an</strong>ds einbezogen waren, liquidiert werden.<br />

Die Sowjetunion wollte aber auf die Produktion in diesen Betrieben nicht verzichten <strong>und</strong><br />

machte dar<strong>aus</strong> sowjetische Aktiengesellschaften. So gab es auch in diesem Betreib eine sowjetischen<br />

Generaldirektion, die gefürchtet war <strong>und</strong> oft unliebsame Entscheidungen traf.<br />

Bei meiner Arbeit war ich der einzige junge Mensch zwischen alten Männern, die auch <strong>aus</strong> ihrer<br />

Heimat vertrieben worden waren, vorwiegend <strong>aus</strong> Schlesien. Wir mussten jede „Drecksarbeit“ machen:<br />

Schutt verladen, Schrott aufbereiten <strong>und</strong> verladen, Material tr<strong>an</strong>sportieren. Eigentlich mussten<br />

wir all das tun, wovor sich jeder gerne gedrückt hätte. Diese älteren Leute gehörten zu der Generation,<br />

die nie aufmuckte <strong>und</strong> alle übertragenen Arbeiten diszipliniert <strong>aus</strong>führte. Von meiner<br />

Gr<strong>und</strong>einstellung gehörte ich auch zu dieser Generation.<br />

Unter uns war ein sehr ruhiger, verträglicher <strong>und</strong> einsatzwilliger M<strong>an</strong>n mittleren Alters. Er sprach<br />

nie über sich <strong>und</strong> seine Verg<strong>an</strong>genheit. Wir erfuhren d<strong>an</strong>n aber doch Folgendes: Er war ein kleiner<br />

Mitläufer in der NSDAP, möglicherweise auch im Zusammenh<strong>an</strong>g mit seiner Tätigkeit bei der<br />

Deutschen Reichsbahn. 1945 wurde er von den Sowjets verhaftet <strong>und</strong> im Konzentrationslager Bu-<br />

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