05.01.2013 Aufrufe

Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Das Ausziehen der Kleidung für die Nacht gehörte ab jetzt der Verg<strong>an</strong>genheit <strong>an</strong>, zumal wir ja<br />

nichts für einen Wechsel hatten. Nach mehreren Tagen spürte ich ein ständiges Jucken auf dem<br />

Körper, da half als Gegenmittel nur kratzen. Mutter meinte wiederholt: „Du hast doch Läuse!“ Ich<br />

versuchte das zu bagatellisieren. Es half nichts, Mutter wollte es wissen <strong>und</strong> das Ergebnis war:<br />

Nicht ich hatte Läuse, sondern die Läuse hatten mich. Ich war ihr Futterspender. Mutter k<strong>an</strong>nte<br />

sich da <strong>aus</strong>. Sie hatte ihre Erfahrungen <strong>aus</strong> dem 1. Weltkrieg. Sie entschied: Alle Sachen <strong>aus</strong>ziehen,<br />

<strong>und</strong> das waren viele, alles in den Backofen, nachdem das Brot r<strong>aus</strong> war, <strong>und</strong> gründlich waschen.<br />

Es half, das Jucken war weg!<br />

Nun zu der Kleidung, die wir Tag <strong>und</strong> Nacht auf dem Körper trugen. Schon vorweggenommen: Das<br />

endete erst im späten April oder Anf<strong>an</strong>g Mai 1945. Jetzt hatten wir Ende J<strong>an</strong>uar. M<strong>an</strong> musste jederzeit<br />

mit der <strong>Vertreibung</strong> rechnen, oder die vagab<strong>und</strong>ierenden Russen hätten die <strong>aus</strong>gezogenen<br />

Sachen <strong>aus</strong> Schik<strong>an</strong>e mitgenommen <strong>und</strong> d<strong>an</strong>n möglicherweise weggeworfen. Durch das ständige<br />

Tragen wurden m<strong>an</strong>che Sachen steif. So wurden die l<strong>an</strong>gen Strümpfe auch durch die vielen<br />

Schuppen innerhalb der Strümpfe immer kleiner bzw. kürzer.<br />

Nun die Aufzählung, was ich so alles <strong>an</strong>gezogen hatte: Zwei Paar l<strong>an</strong>ge Strümpfe, oben <strong>an</strong> den<br />

Knöpfen befestigt. Eine l<strong>an</strong>ge Skihose, eine Art Überfallhose, eigentlich die Uniformhose vom<br />

Jungvolk. D<strong>an</strong>n kam die Hose von Helmuts Konfirmations<strong>an</strong>zug. Weiter zwei Hemden, die waren<br />

früher so l<strong>an</strong>g, dass ich sie unten nach vorn <strong>und</strong> hinten durch die Beine schlagen konnte. D<strong>an</strong>n<br />

kam ein Pullover, die Jacke von Helmuts Konfirmations<strong>an</strong>zug <strong>und</strong> als letzte Hülle, wenn wir unterwegs<br />

waren, ein M<strong>an</strong>tel von Helmut mit bräunlichem Fischgrätenmuster. Natürlich hohe Schuhe,<br />

die zum Glück früher viel zu groß auf Zuwachs gekauft wurden. Gewaschen haben wir uns täglich.<br />

Es war aber nicht viel mehr als eine Katzenwäsche.<br />

Die Tage vergingen. Außer Geschützdonner vernahmen wir eigentlich nichts Außergewöhnliches<br />

von der sich nähernden Front. M<strong>an</strong> konnte auch nicht feststellen, <strong>aus</strong> welcher Richtung sich die<br />

Kampfeinheiten bewegten, weder von der deutschen Wehrmacht, noch von der Roten Armee. Die<br />

Sowjets rückten nicht einfach von Ost nach West vor, sondern verfolgten vielmehr strategische<br />

Ziele. D<strong>an</strong>ach wurde <strong>Ostpreußen</strong> in Kessel aufgeteilt <strong>und</strong> diese Kessel wurden d<strong>an</strong>n aufgerieben.<br />

Bei uns kam die Front direkt <strong>aus</strong> dem Süden, also war Heilsberg am 30. J<strong>an</strong>uar bereits in sowjetischer<br />

H<strong>an</strong>d <strong>und</strong> das nächste Ziel war L<strong>an</strong>dsberg. Diese scheinbare Ruhephase war eigentlich nur<br />

eine Wartezeit bis die ersten Russen erschienen. Da es keinen Strom mehr gab, war die Versorgung<br />

des Viehs aufwendiger, denn es musste alles von H<strong>an</strong>d <strong>und</strong> bei Tageslicht aufbereitet werden.<br />

Aber es st<strong>an</strong>den ja genug Leute zur Verfügung. Ich war eigentlich nur Zuschauer, von kleinen<br />

H<strong>an</strong>dreichungen abgesehen.<br />

Es kam der 2. Februar 1945. Der Tag beg<strong>an</strong>n wie üblich mit einer trügerischen Ruhe <strong>und</strong> der Feststellung,<br />

dass sich Wehrmacht <strong>und</strong> Rote Armee in unmittelbarer Nähe befinden mussten. Außer<br />

kleinen Scharmützeln mit H<strong>an</strong>dfeuerwaffen waren keine Kampfh<strong>an</strong>dlungen bemerkbar. Wir bewegen<br />

uns kaum <strong>aus</strong> dem H<strong>aus</strong>, versuchen aber <strong>aus</strong> den Fenstern alles zu erfassen, was ein mögliches<br />

Erscheinen sowjetischer Truppen erkennen lässt. Und so dauerte es auch nicht l<strong>an</strong>ge, es war<br />

in den Vormittagsst<strong>und</strong>en, da kam ein Trupp Rotarmisten mit etwa 20 M<strong>an</strong>n in Wintertarnkleidung,<br />

die Maschinenpistolen schussbereit im Anschlag, direkt auf unser Gr<strong>und</strong>stück zu. Da unser Gehöft<br />

auf dem Abbau lag, reichlich einen Kilometer vom Dorf entfernt, wussten wir nicht, ob Hoofe bereits<br />

von der Roten Armee besetzt war.<br />

Wir hatten unheimlich Angst <strong>und</strong> erwarteten nichts Gutes. Noch mehr Angst schienen die Fr<strong>an</strong>zosen<br />

zu haben. Sie trugen ja ihre braunen Uniformen, deren Farbe denen der Parteibonzen ähnlich<br />

war. Dieser Trupp, eine relativ kleine Kampfeinheit, hatte den Auftrag, die Gr<strong>und</strong>stücke im Umfeld<br />

von L<strong>an</strong>dsberg nach deutschen Soldaten abzusuchen. Übrigens war der 2. Februar auch der Tag,<br />

<strong>an</strong> dem L<strong>an</strong>dsberg von der Roten Armee eingenommen wurde. Die sich nähernde Kampfeinheit<br />

schwärmte beim Erreichen unseres Gr<strong>und</strong>stücks <strong>aus</strong> <strong>und</strong> durchsuchte alle Gebäude <strong>und</strong> Nebengelasse.<br />

Ein größerer Teil kam ins H<strong>aus</strong>. Die ersten Worte: „Germ<strong>an</strong>ski Soldat“ verst<strong>an</strong>den auch<br />

wir <strong>und</strong> verneinten. Die zwei Fr<strong>an</strong>zosen gaben sich gleich als „Fr<strong>an</strong>zos“ zu erkennen <strong>und</strong> der polnische<br />

Fremdarbeiter versuchte klar zu machen, dass er „Polaki“ ist.<br />

Beim lauten „Uhri jist“, gemeint waren Armb<strong>an</strong>d- <strong>und</strong> Taschenuhren, gab es keinen Unterschied in<br />

der Nationalität. Ob Deutscher, Fr<strong>an</strong>zose oder Pole, mit einem kurzen Ruck haben sie mitsamt der<br />

66

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!