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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Wenn die großen Ferien beg<strong>an</strong>nen, war die erste Woche Wehrertüchtigung Pflicht. Außer den militärischen<br />

Übungen war noch umfassend Leichtathletik dabei. Gr<strong>und</strong>sätzlich galt auch hier widerspruchsloser<br />

Gehorsam. Es war nicht selten demütigend, wenn ein fast Gleichaltriger seine Willkür<br />

<strong>und</strong> Macht <strong>aus</strong>spielte <strong>und</strong> m<strong>an</strong> sich allem unterwerfen musste.<br />

Einmal erging es mir wir folgt: Am Anf<strong>an</strong>g einer Wehrertüchtigungswoche st<strong>an</strong>den Eintragungen in<br />

eine Ausbildungskladde zu jeder Person. Unter <strong>an</strong>derem musste das Körpergewicht eingetragen<br />

werden. Die Frage: „Wie schwer bist du?“ konnte ich natürlich nicht be<strong>an</strong>tworten. Der Jungenschaftsführer<br />

legte das Heft <strong>aus</strong> der H<strong>an</strong>d, griff unter meine Arme <strong>und</strong> wollte mich hochheben um<br />

mein Gewicht zu ermitteln. Ich unterstelle ihm heute, dass er das als 13jähriger nie hätte bewerten<br />

können. Jedenfalls schaffte er es nicht, mich <strong>an</strong>zuheben. Ich bekam eine tüchtige ins Gesicht,<br />

mehr als eine normale Ohrfeige, mit der Anmerkung: „Du Schwein machst dich schwer!“ Das war’s.<br />

Einmal passierte es, dass ich mit einem Schulfre<strong>und</strong> auf dem Weg nach H<strong>aus</strong>e war. Die Dämmerung<br />

hatte eingesetzt. Ein älterer Jugendlicher in HJ-Uniform begegnete uns. Er sagte nur <strong>an</strong>klagend:<br />

„Während der Verdunkelungszeit habt ihr euch nicht auf der Straße aufzuhalten“. Es folgte<br />

auch dafür eine nicht s<strong>an</strong>ft geschlagene Ohrfeige. So war auch die sadistische Erziehung eine gewollte<br />

Methode im damaligen Alltag. Der Stärkere konnte seine Macht demonstrieren, überall wo<br />

es sich <strong>an</strong>bot, der Schwächere wurde gedemütigt!<br />

Eine Anmerkung zur Verdunklungszeit. Gr<strong>und</strong>sätzlich mussten alle Wohnräume <strong>und</strong> <strong>an</strong>deres verdunkelt<br />

werden. Es durfte kein Lichtschein nach außen gel<strong>an</strong>gen. Es gab keine brennende Straßenbeleuchtung<br />

oder ähnliches. Fahrräder mussten eine Blende vor der Lampe haben mit einem<br />

g<strong>an</strong>z kleinen Schlitz. Es hieß sogar, ein feindliches Flugzeug könne eine glimmende Zigarette noch<br />

<strong>aus</strong> 3 Kilometer Entfernung sichten. Da wurde nichts toleriert, sondern gleich bestraft.<br />

Der Kriegsbeginn in Eydkau<br />

Allgemein ist zu sagen, dass wir während der gesamten Kriegsjahre nie hungern mussten, obwohl<br />

alles rationiert war <strong>und</strong> Lebensmittelkarten Gr<strong>und</strong>lage für die Versorgung waren. Für den Kauf von<br />

Kleidung, Schuhen u. ä. musste m<strong>an</strong> einen sogen<strong>an</strong>nten Bezugsschein haben. Den erhielt m<strong>an</strong><br />

auf Antrag von der Stadtverwaltung, aber die Häufigkeit war sehr eingeschränkt <strong>und</strong> es wurde alles<br />

registriert. Da gab es auch für uns als kinderreiche Familie keine Zugeständnisse. Durch unser<br />

Kleinvieh <strong>und</strong> das Schwein hatten wir stets eine Zusatzversorgung. Getreide zum Füttern <strong>und</strong> gelegentlich<br />

auch Schrot u. ä. bekamen wir, wie schon erwähnt, von unserer bäuerlichen Verw<strong>an</strong>dtschaft.<br />

Das war zwar verboten, aber m<strong>an</strong> f<strong>an</strong>d schon eine Lösung.<br />

Es war von jeher in Deutschl<strong>an</strong>d gefordert, dass ein geschlachtetes Schwein vom „Fleischbeschauer“<br />

durch Augenschein begutachtet wird <strong>und</strong> mittels Mikroskop auf den Befall von Trichinen<br />

untersucht wird. Trichinen sind Fadenwürmer, die sich vorzugsweise im Muskelfleisch einkapseln<br />

<strong>und</strong> auch beim Menschen zum Tode führen können. Die Übertragung erfolgt allgemein beim Verzehr<br />

von Rohfleisch.<br />

Unser Fleischbeschauer, er hieß May, hatte im 1. Weltkrieg ein Bein verloren <strong>und</strong> lief mit Unterarmkrücken<br />

in großen Sätzen jedem davon. Er musste auch außer der Fleischbeschau das Gewicht<br />

des Schweins schätzen <strong>und</strong> dieses Gewicht wurde auf die Fleischzuteilung der Lebensmittelkarten<br />

<strong>an</strong>gerechnet. Dar<strong>aus</strong> ergab sich, dass wir über viele Monate keine Fleischwaren kaufen<br />

konnten. Um aber doch etwas frische Wurst zu haben, ließen wir eine Lebensmittelkarte nicht <strong>an</strong>rechnen,<br />

mit der Konsequenz, dass sich der Entzug insgesamt verlängerte. Unser Fleischbeschauer<br />

war bei uns in der Gewichtsbestimmung immer sehr großzügig, er bekam dafür auch sein<br />

„D<strong>an</strong>keschön-Päckchen“.<br />

Die Rationierung bzw. der Bezug von Nahrungsmitteln wurde über Lebensmittelkarten geregelt,<br />

immer für einen Monat. So war z.B. Milch <strong>an</strong> das Alter der Kinder gekoppelt. Normale Milch mit<br />

Fett<strong>an</strong>teil bekamen nur die Kleinkinder, sonst gab es nur Magermilch, „entrahmte Frischmilch“ gen<strong>an</strong>nt.<br />

Weil sie so dünn <strong>und</strong> wässrig war, leicht blau schimmerte, sagten wir beim Milchhändler<br />

auch oft „entrahmte Magermilch“. Ich hatte als Kind nie das Gefühl, dass die rationierten Lebens-<br />

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