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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Mutter zu, nahm fast zart ihre H<strong>an</strong>d, drehte mit etwas Zeitaufw<strong>an</strong>d den Ring vom Finger <strong>und</strong> verschw<strong>an</strong>d.<br />

Ein jüngerer Soldat hätte brutal den Ring in seinen Besitz gebracht. Selbst die Verletzung<br />

des Fingers hätte er in Kauf genommen. Erstaunlich war, dass vorher noch kein <strong>an</strong>derer<br />

Russe den Ring bemerkt hatte. Mutter meinte immer, sie bekäme den Ring nicht mehr vom Finger<br />

runter. Sie hätte ihn <strong>an</strong>sonsten wegstecken können.<br />

Auf dem Weg durchs Dorf wurden wir wiederholt von Armee<strong>an</strong>gehörigen, meist mit höherem<br />

Dienstgrad, in Häuser geholt <strong>und</strong> unser Gepäck wurde nach Beute durchsucht. Dabei passierte<br />

einmal folgendes: Wir mussten der Reihe nach durch ein H<strong>aus</strong> durch <strong>und</strong> alles wurde durchwühlt.<br />

Dieses Mal war eine Frau in Offiziersuniform besonders aktiv <strong>und</strong> uns Deutschen gar nicht gut gesonnen.<br />

Sie schüttete meine Aktentasche <strong>aus</strong>, begutachtete sie <strong>und</strong> f<strong>an</strong>d Gefallen dar<strong>an</strong>. Ich wollte<br />

sie wiederhaben <strong>und</strong> den Inhalt wieder hineintun. Das gefiel ihr gar nicht. Mit einem Stiefeltritt in<br />

den Hintern wurde die Situation beendet. Im Weggehen versuchte ich noch einiges mitzunehmen,<br />

aber es galt: Schnell weg! Wir benötigten fast einen halben Tag, um durch Grünwalde hindurch zu<br />

kommen. Zu Grünwalde wäre noch zu erwähnen, dass es eine längere Abwehrschlacht gegeben<br />

haben musste, Im Dorf st<strong>an</strong>den mehrere zerschossene P<strong>an</strong>zer beider Kriegsparteien. Das Dorf<br />

selber war kaum zerstört.<br />

Es fing zu dämmern <strong>an</strong>. Wir hatten das Dorf verlassen <strong>und</strong> hielten Ausschau nach einer möglichen<br />

Übernachtung. Wählerisch konnte m<strong>an</strong> nicht sein, wenn es um 18 Personen in der beginnenden<br />

Dunkelheit ging. In einer Entfernung von knapp zweih<strong>und</strong>ert Metern von der Straße entfernt sahen<br />

wir in einer Wiesensenke einen Geräteschuppen stehen. Solche Schuppen gab es öfter. Die Bauern<br />

nutzten sie für die Unterbringung einfacher l<strong>an</strong>dwirtschaftlicher Geräte. Sie wurden direkt auf<br />

dem natürlichen Boden mit einfachen Baumstämmen <strong>und</strong> in der Regel Schwartenbrettern errichtet.<br />

Bald erreichten wir einen unbefestigten Fahrweg, der zu einem entlegenen Gr<strong>und</strong>stück führte. Wir<br />

konnten von diesem Weg zu dem Schuppen gel<strong>an</strong>gen. Dass der Fahrweg durch die Militärfahrzeuge<br />

zu einer zerfahrenen Schlammzufahrt geworden war, ist nur nebenbei zu erwähnen. Nicht<br />

weit von der Hauptstraße entfernt lag direkt <strong>an</strong> diesem Weg ein zerschossener Flüchtlingswagen,<br />

aber ohne tote Pferde <strong>und</strong> halb zur Seite gekippt. Er war auch schon geplündert. In gleicher Höhe,<br />

in der Fahrspur, lag ein getöteter Mensch, den die Fahrzeuge bei jeder Wegbenutzung immer tiefer<br />

in den Schlamm drückten <strong>und</strong> dabei zermalmten. Eigentlich konnte m<strong>an</strong> nur noch <strong>an</strong> der Kleidung<br />

erkennen, dass es ein Mensch war.<br />

Wir erreichten den Geräteschuppen, räumten ein wenig um, denn 18 Personen wollten wenigstens<br />

sitzend untergebracht werden. Es war bereits dunkel <strong>und</strong> wir waren froh, ein Dach über dem Kopf<br />

zu haben. Es dauerte nicht l<strong>an</strong>ge, da erschien eine kleine Gruppe Rotarmisten. „Ein Soldat sieht<br />

alles“; m<strong>an</strong> hatte beobachtet, als wir zu dem Schuppen gingen. Die Soldaten leuchteten alle Gesichter<br />

ab, blieben vor einer der jungen Frauen stehen, einer schoss mit seiner Pistole ins Dach um<br />

uns in Angst zu versetzen, <strong>und</strong> mit den Worten: „Ich Komm<strong>an</strong>d<strong>an</strong>t, kommen Sie Frau, zwei Minuten<br />

Fickfick!“ wurde die Frau nach draußen geführt. Es war die jüngste Frau unter uns, so Mitte<br />

zw<strong>an</strong>zig. Sie nahmen sie trotz Nässe <strong>und</strong> Schlamm nach draußen <strong>und</strong> alle vergewaltigten sie. Das<br />

war der Beginn des Martyriums aller jüngeren Frauen unserer Gruppe, wobei gerade diese Frau<br />

auch in der nächsten Zeit immer wieder unter unzähligen Vergewaltigungen zu leiden hatte.<br />

Wir ersehnten die Morgendämmerung, die im Februar ja sehr spät einsetzt. An Schlaf war kaum zu<br />

denken, wobei die Kälte mit tiefen Minusgraden wesentlich dazu beitrug. Bald starteten wir erneut<br />

in Richtung Reddenau, das von hier <strong>aus</strong> nur etwa 12 Kilometer entfernt war. An dem zerschossenen<br />

Flüchtlingswagen vorbei ziehend, konnten wir kaum noch etwas von dem zermalmten Menschen<br />

im Schlamm erkennen. Im Vorbeigehen nahm ich noch einen offen liegenden Pullover <strong>aus</strong><br />

dem Wagen mit, der meiner Größe entsprach. Dieses Kleidungsstück trug ich d<strong>an</strong>n viele Jahre,<br />

später mehr gestopft als original, es war letztlich der einzige Pullover den ich damals besaß. Die<br />

<strong>Erinnerungen</strong> <strong>an</strong> diesen Aufenthalt haben mich jedoch nicht <strong>an</strong>haltend belastet. Wenn es ums Überleben<br />

geht, hakt m<strong>an</strong> einzelne Geschehnisse schnell ab. Es zählt nur die unmittelbare Situation<br />

<strong>und</strong> die Angst vor dem was kommen könnte.<br />

Gar nicht l<strong>an</strong>ge unterwegs, am Straßenabzweig Richtung Reddenau, wurde uns klar, warum wir<br />

vermutlich am vorherigen Tag von Hoofe nicht über H<strong>an</strong>shagen/Petershagen gehen durften. Unmittelbar<br />

am Dorfr<strong>an</strong>d von Petershagen hatte m<strong>an</strong> eine große Funkstation aufgebaut. Sie nahm<br />

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