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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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ein übergroßes Kinderbett <strong>aus</strong> Metall, mit Seitengittern <strong>aus</strong> Maschendraht. Selbst im Alter von<br />

reichlich dreizehneinhalb Jahren passte ich noch bequem hinein. Das Hinein- <strong>und</strong> Her<strong>aus</strong>klettern<br />

war normal schon sehr kraftaufwändig, aber ich wurde so kr<strong>an</strong>k, so dass ich das nur noch mit<br />

größter Anstrengung bewältigen konnte. Ich bekam in Intervallen stechende Leibkrämpfe, so dass<br />

ich es nur noch gekrümmt im Bett <strong>aus</strong>hielt. Hinzu kam das Bedürfnis, mein „Inneres“ ständig zu<br />

entleeren. Es kamen aber nur Blutgerinnsel bzw. kleine Blutklumpen. Mutter war überzeugt, dass<br />

ich <strong>an</strong> der Ruhr erkr<strong>an</strong>kt war, die ja bek<strong>an</strong>ntlich sehr <strong>an</strong>steckend ist. Es st<strong>an</strong>d d<strong>an</strong>n für alle fest:<br />

Das war das Leichengift! In solchen Situationen wusste sich Mutter immer irgendwie zu helfen.<br />

Das hatte sicher seinen Ursprung in ihrer <strong>Kindheit</strong>, denn das Dorf in der Ukraine in dem sie aufwuchs,<br />

k<strong>an</strong>nte mit Sicherheit keinen Arzt. Mutter ging zu einem nah gelegenen Weizenfeld <strong>und</strong><br />

schnitt Ähren. Die waren zwar noch nicht <strong>aus</strong>gewachsen bzw. <strong>aus</strong>gereift, hatten aber bereits<br />

brauchbare Kerne. Die Ähren wurden zerrieben, die Kerne auf dem Herd getrocknet <strong>und</strong> mit einer<br />

Kaffeemühle zu Mehl gemahlen. Mit einem Teesieb wurde nur das feinste Mehl zu einer Art<br />

Schleim gekocht <strong>und</strong> mir löffelweise eingeflößt. „Ich habe überlebt!“<br />

Ich habe ja erwähnt, dass m<strong>an</strong> im Durchschnitt von zwei Toten je Gr<strong>und</strong>stück <strong>aus</strong>gehen konnte. Es<br />

waren immer Unbek<strong>an</strong>nte, die auf der <strong>Flucht</strong> verstarben, durch Fronteinwirkung ums Leben kamen,<br />

oder auch von den Russen erschossen worden waren. Einmal f<strong>an</strong>den wir auch sechs polnische<br />

Mädchen erschossen in einer Rübenmiete. Es waren junge Menschen, die zur Zw<strong>an</strong>gsarbeit<br />

bei den deutschen Bauern verpflichtet worden waren. Die Russen machten da kaum Unterschiede<br />

in ihrem Vorgehen, zumal das Verhältnis zu den Polen ohnehin seit Jahrh<strong>und</strong>erten, historisch bedingt,<br />

belastet war. Auch wir spürten das immer wieder.<br />

Nun etwas zu dem Russengrab unweit von unserem Gehöft. Als die sowjetische Armee von<br />

L<strong>an</strong>dsberg <strong>aus</strong> ihre Offensive fortsetzte bzw. einzelne Einheiten das nähere Umfeld durchkämmten,<br />

schienen sie m<strong>an</strong>chmal selbst nicht zu wissen, wo sich noch Einheiten der deutschen Wehrmacht<br />

bef<strong>an</strong>den. So passierte es, dass ein Schlitten, besp<strong>an</strong>nt mit zwei Pferden <strong>und</strong> zwei aufgesessenen<br />

russischen Soldaten über einen Berg kommend, direkt auf das Nachbargr<strong>und</strong>stück von<br />

uns zufuhr. Die Besitzerin des Gr<strong>und</strong>stücks hatte uns das Ereignis in allen Einzelheiten erzählt, sie<br />

wohnte später bei uns. Auf dem Gr<strong>und</strong>stück bef<strong>an</strong>den sich noch deutsche Soldaten in Abwehrbereitschaft.<br />

Außerdem hielten sich zu diesem Zeitpunkt auch viele Flüchtlinge dort auf. Als der<br />

Schlitten in schusssicherer Entfernung war, eröffneten die Deutschen das Feuer, einer der russischen<br />

Soldaten war sofort tot, der <strong>an</strong>dere wurde schwer verw<strong>und</strong>et. Auch ein Pferd wurde bei diesem<br />

Beschuss getötet. Das wurde von den Sowjets offensichtlich beobachtet <strong>und</strong> es dauerte nicht<br />

l<strong>an</strong>ge, da kam die Antwort. Das H<strong>aus</strong> erhielt einen Gr<strong>an</strong>attreffer, ein Teil der H<strong>aus</strong>w<strong>an</strong>d wurde dabei<br />

aufgerissen <strong>und</strong> sechs Flüchtlinge verloren ihr Leben. Vatel Steinert, so wurde er von seiner<br />

Frau gen<strong>an</strong>nt, ging abends im Dunkeln mutig zum Schlitten, sp<strong>an</strong>nte das tote Pferd <strong>aus</strong> <strong>und</strong> fuhr<br />

den Schlitten mit dem schwerverw<strong>und</strong>eten Russen ins Dorf. Das war noch von der Wehrmacht besetzt.<br />

Was d<strong>an</strong>n geschah, hatte Frau Steinert nie erfahren können. Das Pferd <strong>und</strong> die sechs deutschen<br />

Zivilisten wurden später von Unbek<strong>an</strong>nten begraben. Den gefallenen russischen Soldaten<br />

haben die Sowjets direkt vor Ort beigesetzt. Als wir Ende März 1945 auf das Gr<strong>und</strong>stück Kr<strong>aus</strong>e<br />

kamen, war vom gen<strong>an</strong>nten Geschehenen nichts mehr zu sehen. Lediglich ein Stück des Schlittengeschirrs<br />

des toten Pferdes ragte <strong>aus</strong> der Erde her<strong>aus</strong> <strong>und</strong> das schnitten sich später die „Lederpolen“<br />

ab.<br />

Wie hielten wir über Nacht das Feuer im Herd? Streichhölzer gab es nicht zum täglichen Anzünden.<br />

Am Tag war das Gluthalten kein Problem. M<strong>an</strong> durfte nur nicht verpassen, immer wieder Holz<br />

nachzulegen, das wir ja reichlich hatten. Nach dem Abendbrot ließen wir das Feuer niederbrennen<br />

<strong>und</strong> legten ein Brikett drauf. War das <strong>an</strong>gebr<strong>an</strong>nt, wurde es mit viel Asche zugedeckt. Es schwelte<br />

über Nacht so dahin, dass früh immer noch Glut da war <strong>und</strong> m<strong>an</strong> wieder ein Feuer aufbauen konnte.<br />

Es war aber keine Ausnahme, dass uns gelegentlich am Tag das Feuer <strong>aus</strong>ging. Zum Glück<br />

war das immer im Sommer, wenn m<strong>an</strong> das H<strong>aus</strong> nicht warm halten musste. Das Feuer ging d<strong>an</strong>n<br />

schnell einmal <strong>aus</strong>. Was tun? Als Kinder haben wir oft mit einem Brennglas - eine große Linse von<br />

einer Taschenlampe - <strong>aus</strong> Spielerei Feuer gemacht oder den <strong>an</strong>deren Jungs unbemerkt Verbrennungen<br />

zugefügt. Also wussten wir <strong>aus</strong> Erfahrung, dass gebündelte Sonnenstrahlen eine sehr hohe<br />

Temperatur besitzen <strong>und</strong> zum Feuermachen genutzt werden können.<br />

Das lief d<strong>an</strong>n wie folgt ab: Ich hatte <strong>an</strong> einer unauffälligen Stelle Gewehrmunition deponiert. Eine<br />

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