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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

sagen hatte. Er ertrug das aber mit Humor <strong>und</strong> war gut zu leiden. Wenn ich erwähne, dass er auf<br />

dem großen offenen H<strong>aus</strong>boden eine Art Himmelbett stehen hatte, als Hauptmöbel, d<strong>an</strong>n ist sein<br />

Status als Wirtschafter eigentlich charakterisiert. Uns war er immer gut gesonnen, lustig <strong>und</strong> mitteilsam.<br />

Unsere Bäuerin war <strong>aus</strong>geprägt herrschsüchtig <strong>und</strong> nur sie hatte das Sagen. Ansonsten verst<strong>an</strong>d<br />

sie es hervorragend, unsere Mutter bei größeren <strong>an</strong>stehenden Arbeiten einzusp<strong>an</strong>nen. Die Hauptarbeit<br />

wurde von zwei fr<strong>an</strong>zösischen Kriegsgef<strong>an</strong>genen bewältigt. Es waren sehr gebildete Menschen,<br />

die mit Sicherheit keine gest<strong>an</strong>denen Bauern waren. Sie hatten vor der her<strong>an</strong>nahenden<br />

Front <strong>und</strong> der Roten Armee die gleiche Angst <strong>und</strong> betrachteten das nicht als Befreiung <strong>aus</strong> ihrer<br />

Lage. Wir hatten viel Kontakt zu ihnen. Wir Jungs wurden von unserer Bäuerin kaum zu Arbeiten<br />

her<strong>an</strong>gezogen. Wir halfen jedoch den Fr<strong>an</strong>zosen beim Versorgen des Viehs. So durften wir die<br />

Pferde auf die Weide bringen, natürlich reitend. Zaumzeug <strong>und</strong> Sattel gab es, wie üblich, nicht. Ich<br />

ritt meist den Robert, einen kräftigen Kaltblüter. Der war so dick, dass ich mit meinen kurzen Beinen<br />

kaum Halt f<strong>an</strong>d. Eigentlich best<strong>an</strong>d für mich kaum eine Gefahr bei diesen meist kurzzeitigen<br />

Reitunternehmungen. Normal bewegte sich Robert im Schritt, wie das bei dieser Pferderasse üblich<br />

ist. Nur wenn die Pferde die Weide <strong>und</strong> ihre Freiheit spürten, ging es meist im Trab oder Galopp<br />

zum Ziel. Mein Pferd, obwohl meist das l<strong>an</strong>gsamste, wollte nicht das letzte sein <strong>und</strong> das letzte<br />

Stück versuchte es sogar im Galopp aufzuholen. Abgeworfen wurde ich zwar nie, mit Sicherheit<br />

jedoch war mein Reitstil zirkusverdächtig, <strong>und</strong> das sollte sich oft wiederholen.<br />

In Reddenau beschäftigte ich mich viel mit Angeln, allerdings mit mäßigem Erfolg. Bei mir bissen<br />

meist nur kleine Fische. Einmal warf ich einen selbst für mich zu kleinen Fisch zurück ins Wasser,<br />

zwei Minuten später war er wieder am Haken. Da er unbedingt zu mir wollte, l<strong>an</strong>dete er d<strong>an</strong>n doch<br />

mit den größeren in der Pf<strong>an</strong>ne. Eines Tages f<strong>an</strong>d ich auf dem Holzplatz des Bauern einen <strong>aus</strong>gedienten<br />

Brottrog. Er war nicht mehr g<strong>an</strong>z dicht, aber als Bootersatz schien er mir tauglich. Im Wasser<br />

war er sehr instabil, das lag wohl <strong>an</strong> seiner ger<strong>und</strong>eten Form. Und nun konnte ich weiter hin<strong>aus</strong><br />

auf den Teich <strong>und</strong> wollte mit einem durchs Wasser gezogenen Korb meine Fischbeute steigern.<br />

Das war für mein wackliges „Boot“ zu viel. Bald verlor ich das Gleichgewicht <strong>und</strong> schon lag ich im<br />

Wasser. Natürlich mit Kleidung. Der Schlamm hatte eine Tiefe bis über meine Knie. Ich hatte tatsächlich<br />

Mühe, wieder <strong>an</strong>s L<strong>an</strong>d zu kommen. Die meiste Zeit verbrachten wir jedoch mit den einheimischen<br />

Jungs in den <strong>an</strong>liegenden Wäldern. Es war Natur pur <strong>und</strong> jedes Mal ein neues Erlebnis.<br />

Wild zu beobachten, ist schon etwas Herrliches. Wir hatten viel Zeit, es waren ja noch Schulferien.<br />

Ich meinte ohnehin, die Dorfschule nicht besuchen zu müssen <strong>und</strong> eine Mittelschule war mit<br />

den bestehenden Verkehrsmitteln nicht zu erreichen.<br />

Ende August 1944 bekamen die Bauern kurzfristig die Anweisung, Notquartiere vorzubereiten.<br />

Englische Bomberverbände hatten in der Nacht von 26. zum 27. August <strong>und</strong> auch vom 29. zum 30.<br />

August Großeinsätze auf Königsberg, also die L<strong>an</strong>deshauptstadt, geflogen <strong>und</strong> die Stadt im Kern<br />

fast vollständig zerstört. Es waren beim ersten Einsatz etwa 200 <strong>und</strong> beim zweiten Einsatz 600<br />

Bomber, die neue sogen<strong>an</strong>nte Br<strong>an</strong>dstrahlbomben einsetzten. Die vorzubereitenden Quartiere waren<br />

als Massenunterbringung für die Überlebenden des Bomben<strong>an</strong>griffs gedacht. Es wurden die<br />

Pferdeställe gründlich <strong>aus</strong>gemistet, so weit es ging gereinigt <strong>und</strong> mit viel Stroh <strong>aus</strong>gelegt. Zum<br />

Glück kamen keine Überlebenden der Angriffe nach Reddenau, m<strong>an</strong> hatte sie <strong>an</strong>derswo untergebracht.<br />

Königsberg war in Luftlinie etwa 60 Kilometer von uns entfernt. Wir konnten den rauchverdunkelten<br />

Himmel noch am nächsten Tag sehen.<br />

Der August war vorbei, <strong>und</strong> dieser eine Monat kam mir wie eine Ewigkeit vor. Die Dorfkinder bereiteten<br />

sich auf den Beginn des neuen Schuljahres vor, für mich st<strong>an</strong>d diese Frage nicht. Die nächste<br />

Mittelschule in Bartenstein war ja zu weit weg. Noch am ersten Tag des Schulbeginns erschienen<br />

zwei Jungs der ältesten Klasse am frühen Vormittag bei uns. Im Auftrag des „K<strong>an</strong>tors“ sollten<br />

sie mich zum Unterricht holen. Der K<strong>an</strong>tor, ein echter Parteibonze, war Leiter <strong>und</strong> einziger Lehrer<br />

der zweiklassigen Dorfschule. Sonntags spielt er in der Kirche die Orgel, daher der Name K<strong>an</strong>tor.<br />

In der Schule lief der K<strong>an</strong>tor immer in seiner Parteiuniform herum. Möglich, dass er so seine Autorität<br />

demonstrieren wollte.<br />

Die Dorfschule in Reddenau hatte zwei Klassenräume. In einem Raum waren die Schüler der ersten<br />

bis vierten Klasse, im <strong>an</strong>deren Raum die Schüler der fünften bis achten Klasse. Und es be-<br />

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