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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

<strong>an</strong>nähernd die Fläche eines Fußballfeldes ein. Von Grünwalde kommend durften wir aber passieren.<br />

Wir näherten uns dem Ort bzw. Bahnhof Salvarschinen. An der Straße st<strong>an</strong>d eine große Feldscheune,<br />

Tore wie üblich offen. Davor viel lockeres Stroh. Es war eine Einladung Rast zu machen<br />

<strong>und</strong> etwas zu essen. Unsere Hauptversorgung war zu dieser Zeit ein wenig Schinkenspeck mit<br />

dem Taschenmesser vom größeren Stück abgeschnitten <strong>und</strong> einige Ecken Brot <strong>aus</strong> unserem Überlebensgepäck.<br />

Das hatte m<strong>an</strong> uns beim Durchwühlen unseres Gepäcks bisher nicht weggenommen.<br />

Übrigens: Das selbstgebackene Brot hält sich recht l<strong>an</strong>ge. Es trocknet eher <strong>aus</strong> <strong>und</strong> wird<br />

hart, als dass es schimmelt. Auf dem Stroh sitzend, wir waren wie meist nicht allein, denn <strong>an</strong>dere<br />

rasteten auch, versuchten wir die nähere Umgebung zu erfassen. Kaum einen Meter von uns entfernt<br />

lag ein toter deutscher Soldat, leicht mit Stroh zugedeckt. Es könnten auch mehrere gewesen<br />

sein, aber das wollte m<strong>an</strong> gar nicht genauer feststellen. Wir waren uns selbst am nächsten. Bereits<br />

das bisher Erlebte hatte uns schon so weit abgestumpft, dass wir den Toten nur für den Augenblick<br />

registrierten. Er war kein Gr<strong>und</strong> sich wo<strong>an</strong>ders hinzusetzen oder mit dem Essen aufzuhören.<br />

Nach dieser kurzen Rast ging es weiter Richtung Reddenau. Zum Glück gab es kaum noch geschlossene<br />

Dörfer <strong>an</strong> der Straße. Wir begegneten vielen Kühen, die bei Schnee in den Koppeln<br />

st<strong>an</strong>den, ohne Fressen, die Euter prall mit Milch gefüllt. Es war ein mitleidsvoller Anblick, viele Tiere<br />

waren auch bereits verendet. Ähnlich erging es den Pferden, aber mit dem Unterschied, dass<br />

ges<strong>und</strong>e Pferde gleich vom Militär mitgenommen <strong>und</strong> genutzt wurden. Pferdewagen bzw. P<strong>an</strong>jewagen<br />

waren immer noch ein Hauptbeförderungsmittel der Roten Armee. Nur verletzte Tiere vegetierten<br />

vor sich hin. Vater ging auf ein Pferd zu, dem ein größerer Gr<strong>an</strong>atsplitter ein Stück Fleisch<br />

<strong>aus</strong> dem linken Hinterteil gerissen hatte. Er k<strong>an</strong>nte sich ja mit Pferden <strong>aus</strong>, so dass es ihm auch<br />

ohne Zaumzeug vertrauensvoll folgte. Einen Teil unseres Gepäcks hängte er dem Pferd über den<br />

Rücken <strong>und</strong> erst unmittelbar vor Reddenau überließ er es wieder seinem Schicksal.<br />

Wir hatten Reddenau erreicht, gingen aber nicht gleich ins Dorf. Etwas vorgelagert vor dem geschlossenen<br />

Dorf war ein kleines Gehöft, es wirkte wie eine Kate mit Nebengelass. Wir k<strong>an</strong>nten es<br />

schon <strong>aus</strong> der Zeit, als wir vorübergehend in Reddenau lebten. Über dieses Anwesen gab es immer<br />

schon Legenden. Tatsache war, dass dort zwei ältere Brüder lebten, die niem<strong>an</strong>den auf den<br />

Hof bzw. in das H<strong>aus</strong> ließen. Gelegentlich zeigte sich jem<strong>an</strong>d <strong>an</strong> der geöffneten Hoftür. Es sollte<br />

dort mysteriös zugehen. Genaues wusste aber niem<strong>an</strong>d, auch die Dorfjungen in meinem Alter<br />

nicht. Die Brüder verhielten sich wie Eremiten <strong>und</strong> hielten kaum Kontakt zu Nachbarn. Wie sie sich<br />

von dem bisschen L<strong>an</strong>d, das sie hatten, ernähren konnten, war ebenso schleierhaft. Nun klärten<br />

sich einige Dinge auf, die bisher rätselhaft schienen. Diese Brüder lebten noch nach alten überlebten<br />

Normen <strong>und</strong> Gewohnheiten, die uns tatsächlich fremd erschienen. Die Gr<strong>und</strong><strong>aus</strong>rüstung der<br />

Küche best<strong>an</strong>d noch <strong>aus</strong> Kupferkesseln <strong>und</strong> den dazu passenden Küchenutensilien wie im jüngeren<br />

Mittelalter. Also war doch <strong>an</strong> dem Dorfgerede etwas dr<strong>an</strong>.<br />

Von den sich im H<strong>aus</strong> aufhaltenden Menschen, es waren viele, konnten wir auch nicht erfahren,<br />

wie die Lage im Dorf war. So beschlossen wir weiter ins Dorf zu gehen, zum H<strong>aus</strong> unserer nicht<br />

besonders geliebten Bäuerin, Frau Kohn. Das Gr<strong>und</strong>stück lag gleich am Orts<strong>an</strong>f<strong>an</strong>g <strong>und</strong> war somit<br />

schnell zu erreichen. Das Dorf war, wie auch schon Grünwalde, vollgestopft mit Militär. Alles weckte<br />

Unbehagen <strong>und</strong> Angst bei uns. Wir sahen, wie die ersten jungen Frauen zusammengetrieben<br />

<strong>und</strong> für Tr<strong>an</strong>sporte in die Sowjetunion formiert wurden. Dabei mussten sie tagel<strong>an</strong>g zu Fuß zu den<br />

Sammelpunkten gehen, kaum verpflegt <strong>und</strong> ohne vernünftige Kleidung. Die Straßen vers<strong>an</strong>ken im<br />

Schlamm, nachts war tiefer Frost. Aus dem Nebenh<strong>aus</strong> hat m<strong>an</strong> einer jungen Mutter das Kind <strong>aus</strong><br />

den Armen genommen, einer alten Frau auf den Schoß gesetzt, <strong>und</strong> auch sie musste mit. Wie unmenschlich!<br />

Diesen Komm<strong>an</strong>dos ging es nur um die Erfüllung ihrer zahlenmäßigen Vorgaben.<br />

Verb<strong>und</strong>en mit dem Hass auf die Deutschen, war jedes Mittel recht. Vielleicht hatten sie aber auch<br />

Vergleichbares von den Deutschen in Russl<strong>an</strong>d erfahren.<br />

Unser ehemaliges Zimmer im H<strong>aus</strong> Kohn war voller Menschen, die meist auf dem Boden lagen.<br />

Wenn russische Soldaten rein kamen, stellten sich die meisten schlafend. M<strong>an</strong> wollte so den Blickkontakt<br />

vermeiden. Die jüngeren Frauen trugen Kopftücher bis weit ins Gesicht gezogen, um wie<br />

alte Frauen zu wirken. Wiederholt wurde Helmut nach seinem Alter gefragt. Ob m<strong>an</strong> in ihm einen<br />

Wehrmachts<strong>an</strong>gehörigen vermutete oder ob m<strong>an</strong> ihn auch in die Sowjetunion verschleppen wollte,<br />

war nicht erkennbar. Er gab sein Alter immer mit 13 Jahren <strong>an</strong>, statt mit 15, <strong>und</strong> ich behauptete, elf<br />

Jahre alt zu sein. Bei meiner Körpergröße war das glaubhaft. In der kurzen Zeit, in der wir uns in<br />

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