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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Bad nehmen wollte. Sie hatten es als einzige unserer Verw<strong>an</strong>dten <strong>aus</strong> dem Kreis Gumbinnen bis<br />

hierher geschafft <strong>und</strong> besaßen auch noch ihre Pferde. Erich arbeitete mit seinen Pferden meist im<br />

Wald, um wenigstens das Futter für die Pferde zu sichern.<br />

Die Busverbindung nach Herm<strong>an</strong>nsburg klappte gut <strong>und</strong> bald st<strong>an</strong>den wir vor der H<strong>aus</strong>tür. Es war<br />

ein freudiges Wiedersehen, ich war auch nicht mehr der kleine Junge <strong>und</strong> Erich hatte wie früher<br />

seine poetischen Späßchen drauf, natürlich alles auf Plattdeutsch. Und wie immer, wenn ein Bauer<br />

Besuch bekommt, hat er eine Aufgabe parat. Er zeigte uns u. a. seine K<strong>an</strong>inchenzucht. Ich schätze,<br />

es waren reichlich zw<strong>an</strong>zig Stück. „Ich habe aber ein Problem“, meinte er. „Das sind mindestens<br />

dreizehn Böcke <strong>und</strong> die vertragen sich nicht.“ Diese so gemeinten K<strong>an</strong>inchen waren noch relativ<br />

klein. D<strong>an</strong>n ging es weiter: Die müssten kastriert werden. Zeig mal deine Hände! Du hast die<br />

kleinsten Finger, das wirst du machen. Er meinte es ernst. Das Taschenmesser wurde noch einmal<br />

ordentlich geschärft, Kamille zur Desinfektion aufgebrüht <strong>und</strong> d<strong>an</strong>n ging´s los. Einer hielt so ein<br />

armes Tier in OP-Stellung, ich schnitt das kleine Säckchen auf, hatte Mühe den kleinen Hoden zu<br />

finden <strong>und</strong> mit einem Schnitt war´s passiert. Zuerst alle hinterein<strong>an</strong>der einen Hoden, d<strong>an</strong>n kam der<br />

zweite dr<strong>an</strong>. Mit dem Desinfizieren klappte es auch <strong>und</strong> erstaunlicherweise rappelten sich die kleinen<br />

Wesen nach kurzer Zeit wieder auf, aber eben „entm<strong>an</strong>nt“. Nur das erste Tier wurde Opfer<br />

meiner fehlenden OP-Erfahrung. Es war g<strong>an</strong>z wörtlich das „Versuchsk<strong>an</strong>inchen“.<br />

Am folgenden Wochenende sollte etwas passieren, meinten viele. Keiner wusste Genaues, aber<br />

es lag Sp<strong>an</strong>nung in der Luft. M<strong>an</strong> stellte auch fest, dass die Geschäfte etwas zurückhaltend beim<br />

Verkauf waren, <strong>an</strong>dererseits waren die Läden voller denn je. Je weiter wir uns dem Wochenende<br />

näherten, umso mehr war m<strong>an</strong> überzeugt, dass es eine Währungsreform gibt <strong>und</strong> die Reichsmark<br />

<strong>aus</strong> dem Verkehr genommen wird. Es war die Entscheidung der Westalliierten. Nur so konnte m<strong>an</strong><br />

wieder Ordnung in den Markt bringen <strong>und</strong> den <strong>aus</strong>geuferten Schwarzmarkt beseitigen.<br />

Ich wollte eigentlich noch nicht zurückfahren, wurde aber unruhig wegen des möglichen neuen<br />

Geldes. Womit sollte ich eine Fahrkarte kaufen, wenn ich kein gültiges Geld habe. Kurz entschlossen<br />

packte ich meinen Rucksack <strong>und</strong> fuhr am Samstag, dem 19. Juni 1948 nach H<strong>aus</strong>e. Am 20.<br />

Juni 1948 kam d<strong>an</strong>n tatsächlich die Währungsreform <strong>und</strong> es gab schlagartig alles zu kaufen. Der<br />

Schwarzmarkt war tot, jetzt fehlte das Geld zur Befriedigung vieler Wünsche.<br />

Ich habe es noch geschafft, mit dem alten Geld klarzukommen. Meine Rücktour verlief <strong>an</strong>ders als<br />

gepl<strong>an</strong>t, diesmal etwas nördlicher. Ich k<strong>an</strong>n mich erinnern, dass ein Teil der Bahnstrecke eine<br />

Schmalspur war <strong>und</strong> der Zug <strong>aus</strong> Personen- <strong>und</strong> Güterwagen zusammengesetzt wurde. Ich saß<br />

übermüdet auf der Leiter, die zum Bremserhäuschen führte. Wiederholt schubste mich jem<strong>an</strong>d <strong>an</strong>,<br />

damit ich nicht einschlafe. Der Zug war auch ewig unterwegs, zum Blumenpflücken zu schnell <strong>und</strong><br />

zum Vorwärtskommen zu l<strong>an</strong>gsam. Ab Stendal, ging es d<strong>an</strong>n wieder flott.<br />

Die Währungsreform kam im Westen über Nacht. Viele Spekul<strong>an</strong>ten versuchten noch das dort<br />

wertlos gewordene Geld in den Osten zu schaffen, um doch noch etwas zu retten. Die Ostzone,<br />

damals noch nicht DDR, musste reagieren. M<strong>an</strong> druckte g<strong>an</strong>z schnell Wertmarken etwa in der<br />

Größe einer Briefmarke, die wurden auf die Geldscheine aufgeklebt. Da der Kleber häufig nicht auf<br />

den abgegriffenen Scheinen hielt, hatte m<strong>an</strong> nur noch wertlose Stücke Papier. Es dauerte aber<br />

nicht sehr l<strong>an</strong>ge, da gab es auch im Osten neues Geld. Der große Unterschied war, dass im Osten<br />

die Geschäfte weiterhin leer waren <strong>und</strong> die Lebensmittel noch viele Jahre rationiert blieben, während<br />

m<strong>an</strong> im Westen alles bekam.<br />

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