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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Wertbon für ein Brot in der Lohntüte f<strong>an</strong>den, wenn m<strong>an</strong> keine Fehlst<strong>und</strong>en hatte. So ein Bon, doppelt<br />

so groß wie eine Briefmarke, hatte einen Aufdruck von zwei Textzeilen <strong>und</strong> einen großen<br />

Buchstaben. „Ob m<strong>an</strong> so etwas auch mit Wasserfarben <strong>und</strong> Pinsel nachmachen k<strong>an</strong>n“, war eines<br />

Sonntags meine Überlegung. Akribisch wie ein B<strong>an</strong>knotenfälscher arbeitend, gel<strong>an</strong>g mir tatsächlich<br />

mit viel Geduld ein Exemplar, das sehr echt wirkte <strong>und</strong> einem Vergleich mit dem Original fast<br />

st<strong>an</strong>dhielt. Ich war selbst erstaunt, wie ich die kleinen Buchstaben, etwa halb so groß wie die einer<br />

Schreibmaschine, mit dem spitzen Pinsel hinbekam. Gleich am nächsten Tag ging ich in die Betriebsverkaufsstelle,<br />

gab meinen falschen Bon hin <strong>und</strong> bekam mein Brot. Mein Herz höre ich fast<br />

heute noch pochen. Mit sehr gemischten Gefühlen verließ ich die Verkaufsstelle <strong>und</strong> war glücklich<br />

nicht erwischt worden zu sein. Ein zweiter Versuch missglückte. Möglicherweise hatte ich nicht<br />

meinen künstlerischen Tag bei der Anfertigung des Bons. Als ich erwischt wurde, gab ich <strong>an</strong> den<br />

Bon für jem<strong>an</strong>d <strong>an</strong>deren einzulösen. Ein „Name“ fiel mir auch gleich ein. M<strong>an</strong> nahm mir das ab,<br />

ließ mich ungeschoren gehen <strong>und</strong> meine „Fälscherei“ war beendet.<br />

Zu den ersten Nachkriegsjahren wäre noch zu erwähnen, dass es täglich zeitlich begrenzte Stromabschaltungen<br />

gab. Das passierte immer für einzelne Stadtgebiete. Die vorh<strong>an</strong>denen Kraftwerke<br />

hatten nur eine begrenzte Kapazität. Auch fiel die Netzsp<strong>an</strong>nung zum Teil bis zu 150 Volt ab.<br />

1948 wurden die ersten freien Geschäfte eröffnet, aber mit unzumutbaren Preisen. Es gab immer<br />

noch die Reichsmark <strong>und</strong> durch die Geschäfte sollte ein Gegenpol zum Schwarzmarkt geschaffen<br />

werden. Dort wurden die ersten Fahrräder verkauft, viele h<strong>und</strong>ert Mark teuer, für mich nicht erschwinglich.<br />

So versuchte ich Fahrradeinzelteile zu beschaffen, natürlich alles alt, <strong>und</strong> baute mir<br />

ein Rad zusammen. Jetzt konnte ich täglich mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, aber noch wichtiger<br />

war, dass ich in der Freizeit etwas unternehmen konnte. Das Fahrrad war für mich fast ein Heiligtum.<br />

An den Wochenenden waren Halbtagsfahrten bis 80 Kilometer normal. Ich lernte das erweiterte<br />

Umfeld meiner neuen Heimat kennen <strong>und</strong> konnte feststellen, dass gerade der mitteldeutsche<br />

Raum mit seinen vielen Burgen <strong>und</strong> Burgruinen sehr geschichtsträchtig ist. Es gab auch Verbindungen<br />

zum früheren Geschichtsstoff in der Schule.<br />

Auch hier eine Anmerkung: Im Bunawerk wurden bei der Herstellung von synthetischem Kautschuk<br />

ständig neue Mischungen getestet. In diesem Zusammenh<strong>an</strong>g produzierte m<strong>an</strong> in mäßigen<br />

Stückzahlen Fahrradbereifungen, Motorradreifen <strong>und</strong> auch Autoreifen. Auf Antrag konnte m<strong>an</strong> diese<br />

Artikel erwerben. Später gab es ein breites Versuchsprogramm für Plaste-Erzeugnisse, so dass<br />

wir viele Artikel in der Werksverkaufsstelle preiswert erwerben konnten.<br />

D<strong>an</strong>n entwickelte ich ein neues Interessengebiet. Es waren die Auto- <strong>und</strong> Motorradrennen, damals<br />

noch „gesamtdeutsch“. Die politische Barriere war bis in die 50er Jahre hinein kaum spürbar. Wir<br />

fuhren jetzt zu jedem Rennen bis zu etwa 150 Kilometer Entfernung, natürlich mit dem Fahrrad.<br />

Meist waren wir zu dritt. Folgendes Beispiel soll aufzeigen, dass so ein Rennwochenende nicht<br />

unbedingt ein Spazierg<strong>an</strong>g war. Unser Ziel war die Rennstrecke in Hohenstein-Ernstthal, in Sachsen.<br />

Es war eine in Deutschl<strong>an</strong>d bek<strong>an</strong>nte, fast eine historische Rennstrecke, die sehr beliebt war<br />

<strong>und</strong> stets Rennfahrer <strong>und</strong> Rennställe <strong>aus</strong> g<strong>an</strong>z Deutschl<strong>an</strong>d <strong>an</strong>zog.<br />

Samstags wurde bis 13.00 Uhr gearbeitet, d<strong>an</strong>n ging es nach H<strong>aus</strong>e, Schnitten fertiggemacht <strong>und</strong><br />

in Rhabarberblätter eingewickelt, die traditionelle Kühl- <strong>und</strong> Frischhaltevari<strong>an</strong>te. Mit den Rädern<br />

fuhren wir los. Spät abends, eigentlich fast nachts, kamen wir <strong>an</strong> der Rennstrecke <strong>an</strong> <strong>und</strong> suchten<br />

uns gleich einen günstigen Platz <strong>an</strong> einem Rennabschnitt. Der Platz wurde noch präpariert, um<br />

möglichst gut sitzen zu können. D<strong>an</strong>n kam die Müdigkeit. Wir suchten uns im Wald in unmittelbarer<br />

Nähe der Sitzstelle eine Liegemöglichkeit, eigentlich war es nur der direkte Waldboden. Mit dem<br />

Morgengrauen beg<strong>an</strong>n die „Völkerw<strong>an</strong>derung“ zur Rennstrecke <strong>und</strong> wir mussten unsere Plätze<br />

einnehmen. Bis zum Rennbeginn schien die Zeit unendlich, aber irgendw<strong>an</strong>n ging es los. Da bei<br />

jedem Rennen meist die gleichen Fahrer starteten, wurde jeder Fahrer in jeder R<strong>und</strong>e registriert.<br />

So ein Rennen ging über viele St<strong>und</strong>en, bedingt durch die vielen Klassen <strong>und</strong> d<strong>an</strong>n noch die Trennung<br />

zwischen Ausweis- <strong>und</strong> Lizenzfahrer. Den Abschluss bildeten die Autos, auch getrennt in<br />

Renn- <strong>und</strong> Sportwagen. Durch den fehlenden Schlaf <strong>und</strong> die Übermüdung sahen wir zum Schluss<br />

nur noch Schatten vorbeihuschen <strong>und</strong> das Erfassen der einzelnen Fahrer riss ab. Begünstigt war<br />

das allerdings auch durch das monotone Motorengeräusch, wir waren einfach überfordert. Das<br />

Rennen war beendet, die Straße war wieder freigegeben <strong>und</strong> wir traten den Heimweg <strong>an</strong>. Wieder<br />

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