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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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derladergewehr <strong>aus</strong> dem deutsch-fr<strong>an</strong>zösischen Krieg von 1870/71 Bek<strong>an</strong>ntschaft gemacht. Schullek,<br />

der schon erwähnte Heinz Kablitzki, f<strong>an</strong>d bei seinem verstorbenen Opa in der Dachkammer so<br />

ein Gewehr. Wir zerlegten es <strong>und</strong> stellten dabei fest, dass es noch geladen war. Hätten wir ein<br />

Zündhütchen gehabt, hätten wir es möglicherweise noch abfeuern können. Es war schon eine<br />

Bauart mit modernerem Zündmech<strong>an</strong>ismus. Für uns war besonders interess<strong>an</strong>t, was auf dem<br />

Stück Zeitungspapier st<strong>an</strong>d, das zusammengeknüllt das Schießpulver festhielt, bevor d<strong>an</strong>n die<br />

Bleikugel hineingedrückt wurde. Opa war wohl im Kriegerverein <strong>und</strong> bei Ver<strong>an</strong>staltungen wurden<br />

solche Gewehre oft benutzt. Und d<strong>an</strong>n fiel mir ein, was Vater mir <strong>aus</strong> seiner Jugendzeit <strong>und</strong> Waffenbastelei<br />

erzählte. Das ging etwa so:<br />

„Wer geschickt war, baute sich seine Pistole selbst. Es wurde <strong>aus</strong> Holz eine Pistole in Originalgröße<br />

gefertigt. Das Oberteil, wo der Lauf war, erhielt eine Rille. Dort hinein wurde die leere Hülse einer<br />

Gewehrpatrone eingepasst <strong>und</strong> mit Draht befestigt. Vorher wurde seitlich am hinteren Ende ein<br />

kleines Loch gefeilt. Der hintere Befestigungsdraht musste so <strong>an</strong>geordnet sein, dass m<strong>an</strong> ein mit<br />

dem Streichholzkopf abgebrochenes Stück Streichholz hinein schieben konnte. Der Streichholzkopf<br />

wurde beim Hineinstecken so justiert, dass er direkt <strong>an</strong> dem kleinen Loch <strong>an</strong>lag. Das war der<br />

Zünder.“ Vater erzählte noch, dass sie das vorn verjüngte Stück der Patrone, den Hals, abgesägt<br />

hätten, so dass ein Rohr mit gleichmäßigem Durchmesser entst<strong>an</strong>d. Das wollte ich bewusst nicht<br />

machen, ich hatte meinen eigenen Pl<strong>an</strong>. Wenn ich die Patronenhülse, also den Pistolenlauf, halb<br />

mit Schießpulver fülle, Papierstopfen hinterher <strong>und</strong> noch einen Holzpfropfen zum Abschluss, d<strong>an</strong>n<br />

müsste sich beim Schießen alles zusammendrängeln <strong>und</strong> durch das verjüngte Stück hindurch. Das<br />

sollte besonders laut knallen. Meine Pistole funktionierte auf Anhieb <strong>und</strong> jeder Schuss war immer<br />

wieder ein Erlebnis. Ergänzend wäre noch zu bemerken, dass m<strong>an</strong> beim Zünden nur mit der<br />

Streichholzschachtel über die Streichholzkuppe streichen musste. Das am Loch <strong>an</strong>liegende<br />

Schießpulver zündete ohne Ausnahme.<br />

Nun gab es natürlich Nachahmer. Es dauerte nicht l<strong>an</strong>ge, da hatte die Mehrzahl der Jungs im Dorf<br />

auch so ein Gerät. Schießpulver bekam m<strong>an</strong> leicht. Das Problem lag wo<strong>an</strong>ders. Ich h<strong>an</strong>delte überlegt<br />

<strong>und</strong> vorsichtig. Dazu gehörte, dass m<strong>an</strong> das Schießpulver relativ fest stopfen musste, damit es<br />

im Rohr explosionsartig verbrennt, nur ein Mündungsfeuer entsteht, <strong>und</strong> kein brennendes Pulver<br />

gestreut wegfliegt. Ein jüngerer Junge, der Sohn eines Bauern, mit Kurzaufenthalt in Reddenau auf<br />

der <strong>Flucht</strong> <strong>aus</strong> dem östlichen <strong>Ostpreußen</strong>, hatte bei seinen Schießübungen Pech. Er war unsicher<br />

<strong>und</strong> etwas leichtsinnig beim Abschießen seiner Pistole. Er brachte es fertig, einen großen Strohschober<br />

in Flammen aufgehen zu lassen. Zum Glück etwas entfernt vom nächstliegenden Gr<strong>und</strong>stück.<br />

Für uns war das ein Erlebnis, für den Betroffenen eine Katastrophe. Der Vater des Jungen<br />

bot dem Besitzer <strong>an</strong>, das Stroh zu bezahlen. Dieser „spielte verrückt“ <strong>und</strong> wollte unbedingt eine<br />

Bestrafung durch die kaum noch funktionierende Gendarmerie. Knapp einen Monat später war die<br />

Front da <strong>und</strong> auf dem Gehöft br<strong>an</strong>nten einige Gebäude ab, eine Ironie des Schicksals. Der Bauer<br />

hatte sicher <strong>an</strong> den Endsieg geglaubt.<br />

Meine Schießerei f<strong>an</strong>d bald ein Ende. Ich hatte eine besonders gute Ladung vorbereitet: Wie immer,<br />

Rohr halb mit Pulver gefüllt, gestampft <strong>und</strong> d<strong>an</strong>n der Papierpfropfen drauf. D<strong>an</strong>ach kam erstmalig<br />

Schrot <strong>aus</strong> einer Jagdpatrone hinein <strong>und</strong> das G<strong>an</strong>ze schloss mit einem Holzpfropfen ab. Wir<br />

gingen in Richtung Wald, vorbei <strong>an</strong> unserem Fr<strong>an</strong>zosen, der gerade in einer Koppel Kühe melkte.<br />

Für mich schien der St<strong>an</strong>dort besonders günstig, um die geballte Ladung abzufeuern. Aber diesmal<br />

hätte es „ins Auge“ gehen können, nicht nur symbolisch, sondern wörtlich. Da der Wald nicht<br />

weit entfernt war, hofften wir auf einen lauten Knall mit Widerhall. Und so strich ich mit der Streichholzschachtel<br />

über die Streichholzkuppe <strong>und</strong> der „Erfolg“ blieb nicht <strong>aus</strong>. Es gab einen solchen<br />

Rückschlag, dass es mir die Pistole fast <strong>aus</strong> der H<strong>an</strong>d geschlagen hat. Der Knall Entsprach meiner<br />

Erwartung <strong>und</strong> war so heftig, dass die Kühe erschraken <strong>und</strong> der Fr<strong>an</strong>zose das Melken unterbrechen<br />

musste. Als ich mir d<strong>an</strong>n meine Patrone <strong>an</strong>sah, musste ich feststellen, dass es das eingepresste<br />

Zündhütchen <strong>aus</strong> dem Boden meiner Pistole her<strong>aus</strong>gehauen hatte, welches zum Glück <strong>an</strong><br />

meinem Kopf vorbei geflogen sein muss. Es hätte bei einer <strong>an</strong>deren H<strong>an</strong>dstellung passieren können,<br />

dass ich dieses Stückchen Metall direkt in den Kopf bekommen hätte, oder eben „ins Auge“.<br />

Das wäre wohl mein sicherer Tod gewesen! Das Erlebnis reichte <strong>aus</strong>, dass ich diese leichtsinnige<br />

Spielerei auf Anhieb beendete. Aber es sollte nicht das Ende im Umg<strong>an</strong>g mit Waffen oder Waffenähnlichem<br />

sein. Irgendwie haben diese Dinge etwas Anziehendes, zumindest in dem Alter. Vielleicht<br />

macht aber ein solches Ereignis allgemein vorsichtiger.<br />

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