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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Einschränkungen, noch funktionierte, erschien Vater bald bei uns. Er hätte zu diesem Zeitpunkt<br />

auch noch ins Reich fahren können. Auch wir hätten zu Beginn der Offensive die Möglichkeit gehabt<br />

mit einem org<strong>an</strong>isierten Tr<strong>an</strong>sport von Reddenau wegzukommen, allerdings vorerst bis<br />

Pommern. Mutter vertrat die Position: „Ohne Vater gehen wir nicht weg!“ Das wurde unser Verhängnis!<br />

Andere Eydtkauer, die diese Möglichkeit genutzt haben, konnten sich weiter ins Reich<br />

absetzen <strong>und</strong> sind der Roten Armee entkommen.<br />

Bald nach Beginn der Offensive war die Infrastruktur deutlich geschädigt <strong>und</strong> durch die vielen<br />

Flüchtlingstrecks waren die Straßen zunehmend verstopft. Vieles funktionierte nicht mehr. Die<br />

Molkereien stellten z. B. ihren Betrieb ein <strong>und</strong> die Bauern konnten keine Milch mehr abliefern. Eines<br />

Tages kam die Benachrichtigung, dass die Bauern beim Amtsvorsteher, meist auch Ortsgruppenleiter<br />

der Partei oder Ortsbauernführer, ihre „Schwimmer“ für die häuslichen Milchschleudern<br />

oder Bauteile der „Butterfässer“ abholen sollten. Das waren die Teile, die in den späten Kriegsjahren<br />

in Verwahrung gegeben werden mussten. M<strong>an</strong> wollte dadurch verhindern, dass die Bauern die<br />

Milch selbst entrahmten <strong>und</strong> sich zusätzlich mit Butter versorgten. Unsere Bäuerin bat mich, ihre<br />

Teile zu holen <strong>und</strong> so machte ich mich mit einem Jungen <strong>aus</strong> dem Dorf auf den Weg. Das Gehöft<br />

des Amtsvorstehers lag relativ weit vom Dorf entfernt. Das Gr<strong>und</strong>stück war mir bereits bek<strong>an</strong>nt.<br />

Dort hatten wir die deftige Erbsensuppe nach der Treibjagd genossen. Der Amtsvorsteher war der<br />

Onkel meines Begleiters. Er war trotz der bereits unsicheren Situation immer noch guter Dinge. Als<br />

die beiden sich begrüßten <strong>und</strong> einige Worte gewechselt hatten, ging er zum Waffenschr<strong>an</strong>k, nahm<br />

ein Kleinkalibergewehr her<strong>aus</strong> <strong>und</strong> drückte es ihm in die H<strong>an</strong>d. Dazu gab er noch <strong>aus</strong>reichend Munition.<br />

Wir waren noch nicht weit vom Gr<strong>und</strong>stück weg, da beg<strong>an</strong>nen wir mit unseren Schießübungen.<br />

Endlich mal eine ordentliche Waffe <strong>und</strong> keine Improvisation, nur das zählte bei uns beiden.<br />

Auch auf diese Weise k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> seinen Waffenschr<strong>an</strong>k auflösen <strong>und</strong> meinen, noch etwas Gutes<br />

get<strong>an</strong> zu haben.<br />

Ja, <strong>und</strong> d<strong>an</strong>n traf Vater in Reddenau ein <strong>und</strong> wir waren wieder als Familie beisammen. Vor allem<br />

beschäftigte uns die Frage, w<strong>an</strong>n denn nun der Russe kommt <strong>und</strong> was er mit uns machen wird. Es<br />

gab die unterschiedlichsten Gerüchte, vorwiegend von Menschen, die schon von weiter östlich zu<br />

Fuß auf der <strong>Flucht</strong> waren. Einmal hieß es, dass m<strong>an</strong> den Frauen den Bauch aufgeschlitzt hätte<br />

<strong>und</strong> Hammer <strong>und</strong> Sichel, als Wappen der Sowjetunion, reinlegte. Andere wiederum erzählten, dass<br />

m<strong>an</strong> den Zivilisten nichts get<strong>an</strong> hätte <strong>und</strong> den Kindern sogar Bonbons <strong>und</strong> Schokolade gab. Wir<br />

lebten letztlich in Angst. Vermutlich nahm m<strong>an</strong> das Geschehen von Nemmersdorf, einem Dorf südlich<br />

von Gumbinnen, zum Anlass, die berechtigte Furcht vor der Roten Armee noch zu erhöhen. Es<br />

war tatsächlich so, dass Angehörige der Roten Armee sich unmenschlich <strong>an</strong> der Zivilbevölkerung<br />

verg<strong>an</strong>gen hatten. Vermutlich waren das die ersten Deutschen, auf die m<strong>an</strong> traf. Sie wurden stellvertretend<br />

bestraft für das, was die Deutschen der russischen Bevölkerung <strong>an</strong>get<strong>an</strong> hatten. „Die<br />

Saat ging auf, die Deutsche gesät haben.“ Bei vielen Sowjets hatte sich ein Rachegefühl entwickelt,<br />

das in der kollektiven Schuld aller Deutschen begründet schien.<br />

In Nemmersdorf, so wurde erzählt, hat m<strong>an</strong> Frauen mit Mistgabeln erstochen, <strong>an</strong> Scheunentore<br />

genagelt oder auf <strong>an</strong>dere Weise brutal ermordet. Die Sowjetpropag<strong>an</strong>da war bei den Soldaten <strong>an</strong>gekommen<br />

<strong>und</strong> das auch schriftlich durch Flugblätter. Fast wörtlich hieß es: „Tötet die Deutschen,<br />

überall <strong>und</strong> immer. Ein Tag, <strong>an</strong> dem ihr keinen Deutschen getötet habt, ist ein erfolgloser Tag! Nur<br />

ein toter Deutscher ist ein guter Deutscher.“ Autor: der Schriftsteller Ilja Ehrenburg. Aber es war<br />

meist nur die junge Generation, die das so praktizierte <strong>und</strong> auch nur <strong>aus</strong>nahmsweise mit dieser<br />

Brutalität. Wir sollten es später selbst erleben.<br />

Was passierte weiter in Reddenau? Vater nähte sich einen neuen, größeren Rucksack. Sicher<br />

schon in der Überlegung, wenn wir auf die <strong>Flucht</strong> gehen, etwas mehr einpacken zu können. D<strong>an</strong>ach<br />

schnitt er von seinem Eisenbahnerm<strong>an</strong>tel die Originalknöpfe ab. Es waren goldene Knöpfe<br />

mit dem Adler drauf. Das wäre bei den Russen sicher nicht gut <strong>an</strong>gekommen. Es wurden neutrale<br />

Knöpfe <strong>an</strong>genäht. Immer mehr Menschen suchten kurzfristig Unterschlupf im H<strong>aus</strong>. Auch die „heiligen<br />

Gemächer“ unserer Bäuerin waren mittlerweile überfüllt. Alles wirkte chaotisch <strong>und</strong> die Situation<br />

wurde immer ängstigender. Es war so eine Art Endzeitstimmung in der auch die Wehrmacht<br />

bereits unorg<strong>an</strong>isiert wirkte. Soldaten holten sich ein Schwein <strong>aus</strong> dem Stall, erschossen es <strong>und</strong><br />

versorgten sich, warum auch nicht? Wie unsere Bäuerin „verrückt gespielt“ hat, will ich nicht weiter<br />

beschreiben.<br />

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