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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Jem<strong>an</strong>d hatte von dort ein Pferd geholt <strong>und</strong> nach erledigter Tagesaufgabe sollte ich es zurückbringen.<br />

Größeren Tieren gegenüber war ich etwas dist<strong>an</strong>ziert, aber gr<strong>und</strong>sätzlich Angst hatte ich<br />

nicht. Mein Alter war damals so um reichlich 11 ½ Jahre. Dass es keinen Sattel gab, muss ich nicht<br />

besonders erwähnen. Aber da das Pferd eingeschirrt war, hatte ich die Zügel <strong>und</strong> das Pferd machte<br />

tatsächlich, was ich wollte. Ich glaube, das Pferd, eine Stute, hieß Grete. Ich durfte später noch<br />

einmal eine besondere Bek<strong>an</strong>ntschaft mit ihr machen. Jedenfalls war das Pferd relativ dick <strong>und</strong> mit<br />

meinen kurzen Beinen hatte ich schon einige Mühe, das Sielengeschirr für meine Beinabstützung<br />

zu erreichen. Obwohl ich selten nach T<strong>an</strong>nsee kam, f<strong>an</strong>d ich mich recht gut zum Gr<strong>und</strong>stück meiner<br />

Kusine hin. Allerdings k<strong>an</strong>nte das Pferd ab Ortsnähe den Weg im Prinzip allein. Es war kurz<br />

vor der Dämmerung <strong>und</strong> ich musste noch zu Fuß zurück, dicht <strong>an</strong> einem längeren Waldstück vorbei.<br />

Die Angst vor möglichen Gespenstern trieb mich schon beachtlich <strong>an</strong>, es gab aber noch ein<br />

<strong>an</strong>deres Problem.<br />

Es war allgemein bek<strong>an</strong>nt, dass sich in den Wäldern mit dem Fallschirm abgesetzte „Spione“ versteckt<br />

aufhielten. Es waren deutsche Antifaschisten, die nach 1933 in die Sowjetunion emigriert<br />

waren <strong>und</strong> nun für die „Rote Armee“ Truppenstärken der Wehrmacht u. ä. <strong>aus</strong>k<strong>und</strong>schaften sollten.<br />

M<strong>an</strong> erzählte auch, dass diese Leute versucht haben, nachts Kontakt mit örtlichen Bewohnern aufzunehmen.<br />

Egal, wie hoch der Wahrheitsgehalt war, allein dieses Wissen beschleunigte mein<br />

Tempo umso mehr. Es war das Jahr 1943, durch die hohen Verluste bei der Deutschen Wehrmacht<br />

<strong>und</strong> dem ständigen Rückzug <strong>an</strong> der Ostfront war doch eine Unruhe bzw. Unsicherheit in der<br />

Bevölkerung bereits zu dieser Zeit spürbar. Aber ich kam unversehrt in meinem Domizil <strong>an</strong> <strong>und</strong><br />

fühlte mich wieder sicher.<br />

Kurze Zeit später wollte ich <strong>aus</strong> eigenem Antrieb meine Kusine Ella in T<strong>an</strong>nsee besuchen. Ich hatte<br />

noch nicht erwähnt, dass dieser Ortsname bereits 1938 eingedeutscht war. Am Ortsr<strong>an</strong>d gab es<br />

einen großen See, der auch zum Tränken des bäuerlichen Viehs genutzt wurde. Der See war auch<br />

der Namensgeber für die neue Ortsbezeichnung. Wenn ich Ella besuchte, war ich immer von einem<br />

Himmelbett beeindruckt, das sie in einem Zimmer stehen hatte. Es wurde von einer alten<br />

Oma benutzt. Es könnte die richtige Oma von Ellas M<strong>an</strong>n Erich gewesen sein.<br />

Erich war von seiner Ver<strong>an</strong>lagung her kein richtiger Bauer. Er war poetisch begabt, hatte immer<br />

verschnörkelte Gedichte <strong>und</strong> Reime parat <strong>und</strong> hatte stets einen versteckten Schalk im Nacken.<br />

D<strong>an</strong>n gab es noch einen Pflegesohn, er hieß Gerhard, etwa reichlich 16 Jahre alt. Der passte gut<br />

zu Erich <strong>und</strong> hatte nur Blödsinn im Kopf <strong>und</strong> ers<strong>an</strong>n immer <strong>und</strong> überall, wie er <strong>an</strong>dere s<strong>an</strong>ft ärgern<br />

konnte. Ein Beispiel: Er brachte einem Jungbullen, der sich meist in der Koppel aufhielt, das Stoßen<br />

bei. Sicher liegt das ohnehin in der Natur dieser Tiere, aber m<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n ja noch ein wenig nachhelfen.<br />

Eines Tages ist eine Frau Pilze suchend in der Koppel. Nach Regen gab es immer viele<br />

wild wachsende Champignons. Der Bulle entdeckt die Frau, rast auf sie zu, stößt sie um <strong>und</strong> bleibt<br />

verharrend stehen. Der Bulle schien sich als Sieger zu fühlen <strong>und</strong> ließ von weiteren Aktionen ab,<br />

aber nur so l<strong>an</strong>ge die Frau am Boden lag. Gerhard st<strong>an</strong>d in geringer Entfernung außen am Zaun,<br />

ließ alles geschehen <strong>und</strong> freute sich diebisch über seinen Dressurerfolg.<br />

Meine Kusine meinte am späten Nachmittag, ihr könnt die Pferde gemeinsam zur Tränke bringen.<br />

Die Pferde grasten unweit vom Dorf auf einer Wiese. Dort <strong>an</strong>gekommen, wies Gerhard mir die Grete<br />

zu. Er nahm den H<strong>an</strong>s, es war ein Wallach. Er hatte auch für seine Entscheidung eine Begründung.<br />

Zwei H<strong>an</strong>sens vertragen sich nicht, meinte er. Ich kletterte mit viel Mühe auf die Grete, keine<br />

Zügel, die Mähne war das einzige zum Festhalten. Ansonsten bestimmte das Pferd, wie es weiterging.<br />

Eigentlich k<strong>an</strong>nte mich die Grete ja, aber ohne Zügel hat m<strong>an</strong> nur wenig Einfluss auf das<br />

Pferd. Gerhard hatte vorgesorgt <strong>und</strong> die Zügel von seinem Pferd auf der Weide versteckt, als er die<br />

Pferde dorthin brachte.<br />

Wir ritten gemütlich los <strong>und</strong> erreichten auch bald den See. Die Pferde waren das Tränken gewohnt<br />

<strong>und</strong> über eine durch das ständige Tränken des Viehs <strong>aus</strong>getretene Böschung ging es gleich ins<br />

Wasser. Bei knapp Beinlänge blieben die Pferde stehen <strong>und</strong> löschten ihren Durst. Etwas komisch<br />

ist das schon für einen Nichtschwimmer. So weit das Auge reicht, nur Wasser. Nachdem die Grete<br />

sich vollgesoffen hatte, fing sie mit einem Vorderbein kräftig <strong>an</strong> das Wasser zu treten bzw. zu pl<strong>an</strong>schen.<br />

G<strong>an</strong>z trocken <strong>und</strong> schmunzelnd sagte d<strong>an</strong>n der Gerhard: „Das macht die immer so, bevor<br />

sie sich hinlegt!“ Ich sah mich schon unter Wasser <strong>und</strong> unter dem Pferd. Mit kräftigen Schlägen am<br />

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