05.01.2013 Aufrufe

Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Es hielt sich immer mehr Militär im Dorf auf, aber m<strong>an</strong> sah kaum Geschütze oder <strong>an</strong>dere Militärtechnik,<br />

mit Ausnahme von einer größeren Anzahl LKW. Eines Tages wurden die Fahrzeuge auf<br />

eine Wiese gefahren, kaum 50 Meter von den letzten Gebäuden des Dorfes entfernt. Sie wurden<br />

zur Sprengung vorbereitet. Nur wenige LKW ließ m<strong>an</strong> für den eigenen Rückzug abseits geschützt<br />

stehen. Wir Jungs hielten uns in der Nähe, aber etwas versteckt, auf, um das besondere Ereignis<br />

beobachten zu können. Es war wirklich ein besonderes Erlebnis, als bei der Sprengung die Räder<br />

der LKW wie fliegende Untertassen durch die Gegend flogen, Pakete mit Leuchtkugeln explodierten<br />

<strong>und</strong> die Leuchtkugeln sich überschlagend über die Wiese wälzten. Wir wurden d<strong>an</strong>n aber<br />

selbst aktiv <strong>und</strong> legten die unbeschädigten Kartons mit den Leuchtkugeln auf brennende Reifen.<br />

Welch ein Leichtsinn! Ich steckte mir noch ein Kabelmesser ein, eine Art spezielles Taschenmesser.<br />

Es sollte mir später fast zum Verhängnis werden.<br />

Diese Tage waren die letzten in Reddenau. Unsere Bäuerin fasste nun doch den Entschluss, sich<br />

mit Anh<strong>an</strong>g auch mit Gesp<strong>an</strong>n <strong>und</strong> voll bepacktem, fast überladenem Wagen, auf die <strong>Flucht</strong> zu begeben.<br />

Unsere Fr<strong>an</strong>zosen natürlich mit. Das Vieh wurde sich selbst überlassen. Wenige Tage zuvor<br />

tauchte der Schwager der Bäuerin auf, es war der Bruder ihres verstorbenen M<strong>an</strong>nes. Er war<br />

<strong>aus</strong> einer Irren<strong>an</strong>stalt, sprich psychiatrischen Einrichtung, entlassen worden. Es könnte die Stadt<br />

Tapiau gewesen sein, ein etwas größerer Ort Richtung Königsberg. Bei der näher rückenden Front<br />

wurden die Anstalten einfach geöffnet <strong>und</strong> m<strong>an</strong> überließ die Insassen sich selbst. Es war schon erstaunlich,<br />

dass er ohne größere Schwierigkeiten den Weg nach Reddenau f<strong>an</strong>d, obwohl der öffentliche<br />

Verkehr bereits zusammengebrochen war. Unsere Bäuerin war sehr aufgeregt, als er erschien.<br />

Sie befürchtete irgendwelche Gewalttätigkeiten. Wir hatten das Gefühl, dass sie selbst etwas<br />

mit der Einweisung in die Anstalt zu tun hatte. Wir jedenfalls stellten fest, dass es sich um einen<br />

g<strong>an</strong>z friedlichen <strong>und</strong> höflichen Menschen h<strong>an</strong>delte, mit dem m<strong>an</strong> sich g<strong>an</strong>z normal unterhalten<br />

konnte <strong>und</strong> der sich <strong>aus</strong>gesprochen unauffällig verhielt. Das sollte sich später noch bestätigen.<br />

D<strong>an</strong>n kam der Tag des Aufbruchs. Das war Ende J<strong>an</strong>uar. Wir hörten schon <strong>aus</strong> Richtung Katzen,<br />

dem Nachbarort zirka drei Kilometer südlich von uns, Maschinengewehrfeuer. Eile war geboten.<br />

Wir benutzten Nebenstraßen. Alle mit Ausnahme der Kinder gingen zu Fuß neben dem Fahrzeug.<br />

Es war grimmig kalt bei starkem Frost. Das Ziel war Hoofe, ein Dorf südwestlich von L<strong>an</strong>dsberg/<strong>Ostpreußen</strong>,<br />

etwa 18 Kilometer westlich von Reddenau entfernt. Dort wohnten die Eltern unserer<br />

Bäuerin, eine Familie L<strong>an</strong>gh<strong>an</strong>s. Sie hatten ein mittelgroßes Gr<strong>und</strong>stück mit dem üblichen<br />

Vieh <strong>und</strong> zwei Pferden. Der Bauer L<strong>an</strong>gh<strong>an</strong>s war ein gebürtiger Berliner oder R<strong>an</strong>dberliner, ein<br />

g<strong>an</strong>z verträglicher <strong>und</strong> hilfsbereiter Mensch. Seine Frau hatte das Sagen, das sollten wir später zur<br />

Genüge erleben, es war ihre Gr<strong>und</strong>haltung, da gab es kaum Kompromisse. Irgendwie hat er das<br />

akzeptiert, was blieb ihm auch <strong>an</strong>deres übrig. Durch ihre Herrschsucht haben wir uns alle auf der<br />

späteren <strong>Flucht</strong> ihrem Willen <strong>und</strong> Verhalten unterworfen.<br />

Die sehr schleppende Fahrt nach Hoofe verlief ohne größere Vorkommnisse, auch weil wir Hauptstraßen<br />

mieden, die waren meist verstopft. Von uns war auf dem Wagen lediglich leichtes H<strong>an</strong>dgepäck<br />

dabei, eigentlich nur Dinge zum Überleben, vorzugsweise Esswaren. Als wir die Hauptverbindungsstraße<br />

Heilsberg-L<strong>an</strong>dsberg überqueren mussten, st<strong>an</strong>d ein Wehrmachts<strong>an</strong>gehöriger als<br />

Regulierer auf der Kreuzung. Es dürfte sich sogar um einen General geh<strong>an</strong>delt haben, denn er hatte<br />

breite rote Biesen <strong>an</strong> der Hose. Alle Flüchtlingswagen durften die Straße nur queren bzw. auf eine<br />

Wiese fahren, für sie war es die Endstation. Diese Hauptstraße wurde gr<strong>und</strong>sätzlich für die<br />

Wehrmacht freigehalten. Uns störte das nicht, denn wir wollten pl<strong>an</strong>mäßig nur queren. Wir fuhren<br />

auf eine Straße nach Hoofe, die allgemein nur von Fuhrwerken genutzt wurde.<br />

Wir kamen d<strong>an</strong>n noch am selben Tag wohlbehalten auf dem Gr<strong>und</strong>stück L<strong>an</strong>gh<strong>an</strong>s <strong>an</strong>. Es lag außerhalb<br />

des Ortes. Uns wurde ein Zimmer zugewiesen, das kaum über Möbel verfügte. Schnell<br />

wurden improvisierte Bretteraufk<strong>an</strong>tungen verlegt <strong>und</strong> der Boden mit Stroh verfüllt. Es war unsere<br />

Liegestatt für die nächste Zeit. Wir waren als Familie fünf Personen, hinzu kam der Schwager der<br />

Bäuerin, der <strong>an</strong>geblich unberechenbar <strong>und</strong> aggressiv sein sollte. Auch hier war unser Zusammensein<br />

mit ihm <strong>aus</strong>geprägt verträglich. Die einzige Auffälligkeit war, dass er zum Wasserlassen eine<br />

Konservenbüchse benutzte, die er d<strong>an</strong>n aber draußen entleerte. Auch das tat er sehr unauffällig.<br />

Vielleicht war er das durch die Unterbringung in der psychiatrischen Einrichtung so gewohnt.<br />

65

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!