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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

rechnen. Wir haben niemals erlebt, dass sie etwas schriftlich nach den Rechenregeln gemacht hat.<br />

Gestimmt hat es aber immer. Im Schreiben hatte sie sich so entwickelt, dass sie mit einem heutigen<br />

durchschnittlichen Hauptschüler Schritt halten könnte. Schwierigkeiten gab es meist nur bei<br />

der Groß- <strong>und</strong> Kleinschreibung. Ihre Briefe lasen sich immer schnell, sie schrieb <strong>aus</strong>gesprochen<br />

groß, allerdings in Sütterlin.<br />

Früher müssen unsere Lehrer in der Stoffvermittlung besondere Fähigkeiten gehabt haben. Ich bin<br />

noch im Besitz eines Klassenfotos, es könnte das 2. Schuljahr sein. Beim Durchzählen der Schülerzahl<br />

komme ich auf über 50 Schüler. Und da sollte tiefgründiges <strong>und</strong> <strong>an</strong>wendbares Wissen vermittelt<br />

werden?<br />

Der Klassenlehrer auf dem Foto, er hieß Greschat, wurde von uns nur „Grischelarsch“ gen<strong>an</strong>nt.<br />

Das hätte er wissen müssen, d<strong>an</strong>n hätte er noch einen höheren Verbrauch <strong>an</strong> Rohrstöcken gehabt.<br />

Seine besondere Methode uns den Stoff beizubringen, war das „Einbläuen“, wörtlich genommen.<br />

Er schlug bei jeder Gelegenheit kompromisslos zu. Entweder wollte er auf diese Art seinen familiären<br />

Frust loswerden, oder es war ihm ein sadistisches Bedürfnis. Sein Rohrstockverbrauch war erheblich.<br />

Aber die Prügelstrafe war ja zu jener Zeit gesetzlich s<strong>an</strong>ktioniert <strong>und</strong> wurde einfach so<br />

hingenommen.<br />

Ein Beispiel seiner Praktik: Wir hatten so eine Art Schulw<strong>an</strong>dertag, m<strong>an</strong> sollte eigentlich von W<strong>an</strong>derst<strong>und</strong>en<br />

sprechen. Heute würde ich sagen: Der Greschat wollte wieder einmal <strong>an</strong> die frische<br />

Luft <strong>und</strong> den Frühling genießen. Angetreten in 3er Reihen <strong>und</strong> auf Tuchfühlung zuein<strong>an</strong>der ging es<br />

in Richtung Nickelsfelde, dem nächsten kleinen Ort. „Grischelarsch“ passte nur auf, dass wir ruhig<br />

waren, wir trotteten so dahin wie der Leichenzug beim Begräbnis. Als d<strong>an</strong>n doch mal jem<strong>an</strong>d in der<br />

Nebenreihe etwas lauter bemerkte, vielleicht hatte er etwas besonderes in der Natur gesehen <strong>und</strong><br />

wollte es einem <strong>an</strong>deren Schüler mitteilen, da rasselte auch schon der Rohrstock gezielt auf den<br />

Kopf. Greschat verfehlte sein Ziel nie! Heute glaube ich, er war tatsächlich ein „richtiger Sadist“.<br />

Andererseits k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> auch sagen; er war ein vor<strong>aus</strong>schauender, einfallsreicher Lehrer. Den<br />

Rohrstock hatte er, im Ärmel versteckt, mitgenommen.<br />

Noch einige nachhaltige Erlebnisse, die in die Zeit der niederen Klassen fallen <strong>und</strong> in Erinnerung<br />

blieben. Wir schrieben ein Diktat, so etwa 2 Seiten Umf<strong>an</strong>g. Im Text kam auch ein „Fisch“ vor. Und<br />

ich als einziger in der Klasse schreibe „Fisch“ mit „V“. Die Lacher waren alle auf meiner Seite. Ich<br />

schäme mich fast heute noch. Aber seitdem weiß ich, wie Fisch geschrieben wird. Allerdings hatten<br />

die meisten Lehrer auch ihre Freude dar<strong>an</strong>, mit beleidigendem oder erniedrigendem Kommentar<br />

den Schüler bloßzustellen.<br />

Aber es gab auch lustige Schulst<strong>und</strong>en. Einmal war unsere Klasse <strong>aus</strong>gewählt für eine Hospitation<br />

durch den Kreisschulrat. So eine Hospitation hatte einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert <strong>und</strong><br />

passierte nicht oft. Die Vorbereitung mit allem Drum <strong>und</strong> Dr<strong>an</strong> war damals schon mindestens so<br />

gut wie heute. Welch ein Klassenlehrer <strong>und</strong> Schuldirektor wollte sich schon bei einem solchen Jahresereignis<br />

blamieren. Auf dem Pl<strong>an</strong> st<strong>an</strong>d „Lesen“. Eine Kurzgeschichte <strong>aus</strong> dem Lesebuch. Das<br />

Stück war überschrieben: „Die Weihnachtsg<strong>an</strong>s“. Alles lief recht gut ab <strong>und</strong> zur Zufriedenheit des<br />

Lehrers. Während des Vorlesens wechselten die Schüler, die, wie sollte es auch <strong>an</strong>ders sein,<br />

schon vorher festgelegt waren. Beim Inhalt des Lesestücks ging es u. a. darum, dass eine G<strong>an</strong>s<br />

außen am Fenster bei Frost aufgehängt war, m<strong>an</strong> n<strong>an</strong>nte das „Abhängen“, <strong>und</strong> sich eine Kohlmeise<br />

dar<strong>an</strong> zu schaffen machte. Sie wollte aber nichts von der G<strong>an</strong>s abhaben, sondern hatte es auf<br />

eine Raupe abgesehen, die sich im „Gespinst“ verborgen hatte. So st<strong>an</strong>d es wörtlich im Lesebuch.<br />

Der vortragende Schüler, auch aufgeregt, las: „<strong>und</strong> da hatte sich doch eine Raupe im „Gespenst“<br />

verborgen.“ Ich muss nicht näher beschreiben, wie der Rest der St<strong>und</strong>e verlaufen ist. Selbst der<br />

Schulrat schmunzelte. Es war eine gelungene Hospitation!<br />

Aber zu den Schulepisoden. Es soll sich in einer ostpreußischen Dorfschule tatsächlich so zugetragen<br />

haben. In Dorfschulen tolerierte m<strong>an</strong> meist, wenn auch „Plattdeutsch“ gesprochen wurde,<br />

das war hinsichtlich Aussprache <strong>und</strong> Grammatik einfacher <strong>und</strong> diffizile Worte wurden durch die<br />

Aussprache meist gemildert. Auch hier ging es um eine Hospitation durch den Schulrat <strong>und</strong> die<br />

St<strong>und</strong>e war wieder ordentlich vorbereitet. Mittendrin meldete sich Fritzchen <strong>und</strong> trampelte immer<br />

von einem Bein auf das <strong>an</strong>dere. „Was hast Du denn?“ fragte der Lehrer. „Herr Lehrer, mie schie-<br />

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