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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Wir gehen davon <strong>aus</strong>, dass Vater den Strapazen ges<strong>und</strong>heitlich nicht gewachsen war. Er hatte von<br />

jeher mit Magenproblemen zu tun <strong>und</strong> bek<strong>an</strong>ntlich sind nur wenige dieser Menschen lebend zurückgekommen.<br />

Wie ging es d<strong>an</strong>n mit uns weiter? Am Folgetag wurde auf unserem Nachbargr<strong>und</strong>stück eine Art<br />

Lazarett bzw. Pflegestation für zusammengetriebene Rinder eingerichtet. Das bot sich <strong>an</strong>, da noch<br />

alle Gebäude intakt waren <strong>und</strong> genügend Futter zur Verfügung st<strong>an</strong>d. Dazu wurden die noch verbliebenen<br />

arbeitsfähigen Männer <strong>und</strong> Frauen aufgefordert, die Tiere zu versorgen. Hierbei gab es<br />

keine Altersbeschränkungen, so dass auch Helmut dabei war. Ich wurde auch befragt, verneinte<br />

aber mit einem Kopfschütteln. Diese Männer <strong>und</strong> Frauen wurden bewacht <strong>und</strong> genossen somit<br />

Schutz vor Übergriffen durch <strong>an</strong>dere. Einen Tag früher <strong>und</strong> wir hätten unseren Vater nicht verloren.<br />

Dieses Bewachungspersonal best<strong>an</strong>d <strong>aus</strong> meist älteren Soldaten, die in ihrem Verhalten uns gegenüber<br />

menschlich waren. Als der eine Soldat sah, dass bei uns ein nur wenige Wochen alter<br />

Säugling war, trieb er eine Milchkuh zu uns herüber, die wir aber verstecken sollten. Das gel<strong>an</strong>g<br />

uns auch. Im Stall war ein kleiner Abschlag, von Heu verdeckt. Dort kam die Kuh hinein <strong>und</strong> von<br />

außen wurde alles mit Heu <strong>und</strong> Stroh zugepackt. Zum Glück verhielt sich das Tier <strong>aus</strong>gesprochen<br />

ruhig <strong>und</strong> wir hatten für eine Überg<strong>an</strong>gszeit Milch. Als die Pflegestation d<strong>an</strong>n ins Dorf verlegt wurde,<br />

holte m<strong>an</strong> die Kuh natürlich wieder ab. Dass dieser Soldat ein so hohes Risiko eingeg<strong>an</strong>gen<br />

ist, muss m<strong>an</strong> heute noch <strong>an</strong>erkennen. Ansonsten wurde das kleine Geschöpf nur mit dünnem<br />

schwarzen Kaffee <strong>und</strong> Tee ernährt. Die Mutter konnte wohl nicht stillen.<br />

Eines Tages schleppte sich ein älterer M<strong>an</strong>n ins H<strong>aus</strong>, er stammte <strong>aus</strong> Reddenau. Er sagte zu uns<br />

auf plattdeutsch: „Eck komm her, tom starwe!“ Das heißt auf Hochdeutsch: „Ich komme her, um zu<br />

sterben.“ Und er ergänzte: „Stellt mir einen Eimer Wasser hin, ich habe nur Durst!“ Er legte sich auf<br />

eine freie Stelle auf den Fußboden <strong>und</strong> lebte, wenig sprechend, nur noch einige Tage. Er war zum<br />

Schluss zu schwach, um überhaupt aufzustehen <strong>und</strong> seine Notdurft zu verrichten, ließ alles unter<br />

sich <strong>und</strong> d<strong>an</strong>n wurde es ruhig. Er war tot! Bald d<strong>an</strong>ach wurde eine Leiter beschafft, er draufgelegt<br />

<strong>und</strong> zu einem in unmittelbarer Nähe stehenden Strohschober gebracht. Dort hatte die Wehrmacht<br />

kleine Schützenlöcher <strong>aus</strong>gehoben. In eins wurde er hineingelegt. Eine <strong>an</strong>dere Möglichkeit, ihn zu<br />

begraben, gab es nicht. Der Boden war immer noch hart <strong>und</strong> tief gefroren. Mich hat diese unmittelbare<br />

Konfrontation mit dem Sterben eines Menschen, das direkte Erleben, belastet. An Tote hatte<br />

m<strong>an</strong> sich schon gewöhnt, aber das hier war doch etwas <strong>an</strong>deres. Als es darum ging, den Toten auf<br />

die Leiter zu legen <strong>und</strong> wegzutragen, da bes<strong>an</strong>n ich mich auf mein Alter <strong>und</strong> wollte wieder Kind<br />

sein. Ich kniff!<br />

Wir lebten ohne Zukunftspläne, immer nur für den unmittelbaren Tag <strong>und</strong> die akute Situation. Im<br />

Prinzip saßen wir still auf unseren Stühlen, redeten kaum <strong>und</strong> warteten auf das nächste Ereignis.<br />

Ich sehe immer noch, wie die Kinder mit ihren Fingern spielten, auch sie wirkten apathisch <strong>und</strong> der<br />

kindliche Spieltrieb war vollkommen unterdrückt.<br />

In einer Nacht ereignete sich Folgendes: Unser H<strong>aus</strong> hatte eine zweiflügelige Eing<strong>an</strong>gstür. Ein<br />

Türflügel fehlte. Im relativ großen Vorraum des H<strong>aus</strong>es war der Zug<strong>an</strong>g zum Keller. Die Kellertreppe<br />

war eigentlich mit einer Klappe abgedeckt. Diese Klappe fehlte, wir hatten uns dar<strong>an</strong> gewöhnt<br />

<strong>und</strong> sahen für uns keine unmittelbare Gefahr. Auf dem Gr<strong>und</strong>stück hielt sich wiederholt ein durch<br />

Futterm<strong>an</strong>gel heruntergekommenes <strong>und</strong> leidendes Pferd auf. Da es nachts sehr kalt war, versuchte<br />

es durch die fehlende Tür im H<strong>aus</strong> Schutz zu suchen. Durch das Gepolter wurden wir aufgeschreckt,<br />

erwarteten aber vagab<strong>und</strong>ierende <strong>und</strong> nach Beute suchende Russen. Zum Glück war es<br />

auch dieses Mal nur wieder das Pferd.<br />

Wir waren uns zwar bewusst, dass das Pferd bei den sich wiederholenden H<strong>aus</strong>besuchen in den<br />

Keller stürzen könnte, uns fehlte aber der Antrieb nach einer Abdeckung zu suchen. Und d<strong>an</strong>n<br />

passierte das, was letztlich zu erwarten war. Das Pferd stürzte rückwärts die Treppe hinunter, die<br />

im unteren Bereich noch einmal die Richtung änderte. Immer <strong>und</strong> immer wieder versuchte das<br />

Pferd sich <strong>aus</strong> dieser Lage zu befreien, aber es verklemmte sich mehr <strong>und</strong> mehr. Wir waren<br />

machtlos <strong>und</strong> konnten nicht helfen. Ich habe immer noch vor Augen, wie es zu Beginn häufig den<br />

Kopf hob, das aber immer weniger wurde <strong>und</strong> uns flehend <strong>an</strong>sah. Nach mehreren Tagen verendete<br />

das arme Tier <strong>und</strong> wir st<strong>an</strong>den vor der Frage, wie wir den Kadaver dort weg bekommen. Ein<br />

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