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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Später entwickelte sich eine Sportart <strong>aus</strong>geprägt schnell <strong>und</strong> mit hoher Popularität: das Boxen! Es<br />

gab in allen größeren Orten Vereine mit recht guten Boxern. Die Trainer haben sich meist selber<br />

ern<strong>an</strong>nt <strong>und</strong> waren oft keine gest<strong>an</strong>denen Boxer. Bei den Boxern dominierten die Naturtalente. So<br />

hatte auch Bad Lauchstädt einen Verein mit recht vielen Boxern. Die Boxringe ließen sich schnell<br />

in einem Saal auf- <strong>und</strong> abbauen <strong>und</strong> nach einigen Übungen ging es zur Sache. Mich hatte ein Bek<strong>an</strong>nter<br />

auch überzeugt, dort mitzumachen. Eigentlich war ich nicht der Typ, der einem <strong>an</strong>deren<br />

die F<strong>aus</strong>t ins Gesicht haut, aber ich machte mit. Nach der zweiten Übungsst<strong>und</strong>e wurde ich als Opfer<br />

für einen Kopf größeren, erfahrenen Boxer <strong>aus</strong>gesucht. Kurz nach Beginn der ersten R<strong>und</strong>e<br />

bekam ich einen gezielten Treffer auf die Nase, so dass ich blutüberströmt war <strong>und</strong> wie ein abgestochenes<br />

Schwein in einer Schlachterei <strong>aus</strong>sah. Zum Waschen gab es in der Gaststätte gerade<br />

mal ein kleines Waschbecken <strong>und</strong> eine kleine Toilette. Also ging ich auf dem direkten Weg in die<br />

zur Gaststätte gehörende Küche. Die Frauen saßen <strong>an</strong> einem l<strong>an</strong>gen Tisch <strong>und</strong> machten P<strong>aus</strong>e.<br />

Als die mich erblickten, liefen einige gleich davon. Aber zum Glück war eine ältere, couragierte<br />

Frau dabei, die mich <strong>aus</strong> meiner misslichen Situation befreite. So schnell endete meine Karriere<br />

als Boxer! Das war nichts für mich, ich schaute mir lieber die Boxkämpfe von außerhalb des Ringes<br />

<strong>an</strong>.<br />

Insgesamt musste m<strong>an</strong> <strong>an</strong>erkennen, dass ab 1948 eine stetige Verbesserung der Lebenssituation<br />

erkennbar war. So hatte sich auch im Zugverkehr zur <strong>und</strong> von der Arbeit etwas get<strong>an</strong>. Das Bunawerk<br />

baute in Eigeninitiative fünf Güterwagen zu Behelfspersonenwagen um <strong>und</strong> errichtete einen<br />

Bahnsteig unmittelbar <strong>an</strong> einem Werkstor. Das waren natürlich keine Luxuswagen, aber ein<br />

brauchbarer Kompromiss im Interesse der Belegschaft. Der Zug st<strong>an</strong>d am Tag auf einem Abstellgleis<br />

im Werk <strong>und</strong> wurde zum Feierabend mit einer Werkslok für die Fahrt zum Bahnhof der Deutschen<br />

Reichsbahn bereitgestellt. Dort wurde er <strong>an</strong> den pl<strong>an</strong>mäßigen Zug der Reichsbahn <strong>an</strong>gekoppelt<br />

<strong>und</strong> es ging weiter. Früh war die Prozedur umgekehrt. Wir sparten zwei Kilometer Fußmarsch<br />

zweimal am Tag.<br />

Auch hatte das Werk zur besseren Versorgung der Belegschaft etwas g<strong>an</strong>z Besonderes org<strong>an</strong>isiert.<br />

Es wurde eine Werksverkaufsstelle errichtet. Wenn m<strong>an</strong> im laufenden Monat keine Fehlst<strong>und</strong>en<br />

hatte, war in der Lohntüte ein Bon für ein 1,5-Kilo-Brot <strong>und</strong> ein Bon für zwei Schachteln Zigaretten<br />

à 20 Stück. Die Zigaretten waren damals mehr wert als Geld. M<strong>an</strong> konnte damit die verschiedensten<br />

Lebensmittel eint<strong>aus</strong>chen, denn ein richtiger Raucher hungerte lieber, als dass er auf<br />

das Rauchen verzichtete. Doch das Wichtigste waren Wertmarken bzw. Punkte, die m<strong>an</strong> sammelte<br />

<strong>und</strong> für die m<strong>an</strong> je nach Angebot Textilien, Schuhe u. Ä. erwerben konnte. Es war eigentlich zu<br />

dieser Zeit die einzige Möglichkeit, <strong>an</strong> neue Kleidung zu gel<strong>an</strong>gen. Von der Qualität konnte m<strong>an</strong><br />

nicht allzu viel erwarten. Mein erstes Kleidungsstück war ein Anzug. Das Gewebe wirkte recht<br />

grob, vergleichbar mit dem eines Kartoffelsacks. Endlich hatte ich mal etwas Ordentliches <strong>und</strong> ich<br />

musste meine immer wieder gestopfte Hose nicht auch am Sonntag tragen. Aber nun passierte<br />

Folgendes: Mich überraschte ein Regen, der löste die Appretur auf <strong>und</strong> mein Anzug hing <strong>an</strong> mir<br />

herum wie ein Sack. Anderen ging es ähnlich, ein kleiner Trost.<br />

Auch mit einem Paar neuen Halbschuhen hatte ich ein wenig Pech. Die Schuhe sahen beim Kauf<br />

gut <strong>aus</strong>. Da es kein Leder gab, musste die l<strong>an</strong>gsam funktionierende Schuhindustrie sich etwas einfallen<br />

lassen. Die Schuhe waren <strong>aus</strong> grobem Stoff. An den besonders belasteten Stellen hatte m<strong>an</strong><br />

die Kappen <strong>und</strong> Seitenriester mit Kunstleder verstärkt. Die Sohle sah g<strong>an</strong>z <strong>an</strong>sprechend <strong>aus</strong>. Aber<br />

nach dem ersten großen Regen lösten sich die Schuhe auf. Die Innensohle best<strong>an</strong>d nur <strong>aus</strong> imprägnierter<br />

Pappe, die Regen nicht überstehen konnte. Später gab es Igelith-Schuhe, also welche<br />

<strong>aus</strong> PVC. Ein Weichmacher machte sie elastisch. Die Schuhe sahen schick <strong>aus</strong>, aber das Material<br />

atmete nicht. Nach kurzer Zeit schwamm der Fuß im „eigenen Saft“. Das ist wörtlich zu nehmen,<br />

natürlich vor allem im Sommer. Doch für den sich <strong>an</strong>stauenden Schweiß hatte m<strong>an</strong> sich etwas einfallen<br />

lassen. Der Schuh erhielt ringsherum Löcher. Jetzt lief der Schweiß nicht über den R<strong>an</strong>d<br />

nach außen, sondern bereits etwas tiefer durch die Löcher. Im Winter war der Schuh steif <strong>und</strong> die<br />

Elastizität dahin.<br />

Die betriebliche Unterstützung der Belegschaft ging noch darüber hin<strong>aus</strong>. Eines Tages erhielten<br />

wir die Möglichkeit, drei Sack gesiebte Rohbraunkohle im Werk zu kaufen. M<strong>an</strong> hatte die Kohle<br />

von der Versorgung der Kraftwerke abgezweigt. Möglicherweise war dies aber auch durch die sow-<br />

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