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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Zug auf dem Bahnhof abfahrtbereit <strong>und</strong> er fuhr pünktlich auf die Minute, wie im tiefsten Frieden, ab.<br />

Durch die Druckwellen der schweren Geschütze hatte m<strong>an</strong> im Zug sitzend das Gefühl, als würde<br />

der Eisenbahnwagen immer leicht hochspringen.<br />

In Gumbinnen <strong>an</strong>gekommen, 36 Bahnkilometer, wussten wir vorerst nicht, wie weiter nach Gerwen.<br />

Es sollte wohl eine Busverbindung geben, aber damals war das so: früh ein Bus, abends ein<br />

Bus. Normal war es so, dass wir vorher mit unseren Verw<strong>an</strong>dten schriftlich vereinbart hatten, w<strong>an</strong>n<br />

wir mit Pferdegesp<strong>an</strong>n abgeholt werden sollten. Es waren ja etwa 12 Kilometer <strong>und</strong> zu Fuß, mit<br />

Gepäck, war das nicht möglich. Als wir so mit kleinem Gepäck durch die Stadt ziellos umherirrten,<br />

sprach uns eine Rot-Kreuz-Schwester <strong>an</strong> <strong>und</strong> nahm uns vorerst in ihr Büro mit. Eine Lösung, wie<br />

wir weiterkommen, hatte sie aber auch nicht. Zumindest war es eine Bleibe bis zur Busabfahrt. Es<br />

fuhr tatsächlich abends ein Bus nach Gerwen. Als wir in diesem Büro warteten, brachte uns eine<br />

dort Bedienstete in einem großen Karton Lebkuchen. Ich konnte das gar nicht begreifen, dass es<br />

im Sommer Weihnachtsgebäck geben k<strong>an</strong>n. Richtige Pfefferkuchen, Herzen, Sterne usw. wie ich<br />

sie nur vom Weihnachtsteller her k<strong>an</strong>nte. Jedenfalls erreichten wir noch am selben Tag unsere<br />

Verw<strong>an</strong>dten. Nach nur wenigen Tagen fuhren wir wieder nach H<strong>aus</strong>e. Den großen Geschützdonner<br />

gab es nicht mehr. Der Alltag war fast wieder eingekehrt. Von den zurückgebliebenen Jungs<br />

erfuhr ich nur, dass in Grenznähe immer noch geschossen wurde. Es war wohl eine Bunkerbesatzung,<br />

die sich nicht ergeben wollte <strong>und</strong> d<strong>an</strong>n mit einem Flammenwerfer „<strong>aus</strong>geräuchert“ worden<br />

sei.<br />

Vater, der ja bei der Reichsbahn arbeitete, erzählte d<strong>an</strong>n, dass eine erste Maßnahme der Reichsbahn<br />

war, die russische Spurbreite der Gleise auf unsere Spurbreite zu verändern. Das Kriegsmaterial<br />

musste so weit <strong>und</strong> schnell wie möglich <strong>an</strong> die Front gebracht werden. Und die Front verschob<br />

sich in den ersten Wochen <strong>und</strong> Monaten schnell gen Osten. Im Radio gab es laufend Sondermeldungen<br />

<strong>und</strong> Frontberichterstattung <strong>und</strong> noch vor Wintereinbruch st<strong>an</strong>d m<strong>an</strong> vor Moskau <strong>und</strong><br />

Leningrad war eingekesselt. Aber mit dem gepl<strong>an</strong>ten Blitzkrieg <strong>und</strong> der Zerschlagung der Sowjetarmee<br />

hat es d<strong>an</strong>n doch nicht geklappt. Die Front kam zum Stehen <strong>und</strong> der Winter 1941/42 war<br />

besonders hart. Tiefsttemperaturen um minus 40°C <strong>und</strong> tiefer waren normal. Da die militärische<br />

Entscheidung vor dem Wintereinbruch gepl<strong>an</strong>t war, war die deutsche Wehrmacht auch nicht auf<br />

ein Überwintern im Stellungskrieg vorbereitet. Es fehlten in starkem Maße Winterkleidung <strong>und</strong> vieles<br />

mehr für die Soldaten. Hinzu kam, dass unsere Soldaten solche tiefe <strong>und</strong> <strong>an</strong>haltende Temperaturen<br />

nicht k<strong>an</strong>nten. Es gab viele Erfrierungsopfer <strong>und</strong> vielen mussten Glieder amputiert werden.<br />

Da im östlichen Deutschl<strong>an</strong>d, also bei uns in <strong>Ostpreußen</strong>, ähnliche Temperaturen herrschten, waren<br />

besonders die Kriegsgef<strong>an</strong>genen in den Lagern betroffen. Sie hatten nur das auf dem Leib,<br />

was sie bei der Gef<strong>an</strong>gennahme, meist in den Sommermonaten trugen. In der Nähe von Ebenrode,<br />

unserer Kreisstadt, war auch ein Gef<strong>an</strong>genenlager für russische Kriegsgef<strong>an</strong>gene errichtet<br />

worden. Es war bei Malissen, wo auch Verw<strong>an</strong>dte von uns wohnten. Die in der Nähe wohnenden<br />

Deutschen hielten Dist<strong>an</strong>z dazu, es war wohl auch so gewollt. Unsere Verw<strong>an</strong>dten erzählten uns<br />

später, hinter vorgehaltener H<strong>an</strong>d, folgendes: Die Unterkünfte der Gef<strong>an</strong>genen waren dünnw<strong>an</strong>dige<br />

Baracken <strong>und</strong> Temperaturen um minus 40 °C schlugen sofort durch. M<strong>an</strong> war auch hier nicht<br />

auf so einen Winter vorbereitet <strong>und</strong> eine Heizung war für diese Menschen nicht vorgesehen. Eines<br />

Tages hörten die Dorfbewohner <strong>aus</strong> einer hörbaren Dist<strong>an</strong>z immer Geräusche, als würde m<strong>an</strong><br />

Holz bzw. Baumstämme stapeln. M<strong>an</strong> wollte d<strong>an</strong>n erfahren haben, dass es steif gefrorene Gef<strong>an</strong>gene<br />

waren, die m<strong>an</strong> „wagenweise“ dort abgeladen hatte. Es gab aber keine Zeugen die dies bestätigen<br />

konnten.<br />

Auch in der Nähe des Bahnhofs wurde ein großes Gef<strong>an</strong>genenlager errichtet. Diese Menschen<br />

haben sehr gehungert. Sie bettelten stets nach etwas Essbarem, hatten aber für eine Art T<strong>aus</strong>ch<br />

oder Bezahlung hervorragend gefertigtes Spielzeug <strong>an</strong>zubieten. Wenn m<strong>an</strong> bedenkt, dass alles mit<br />

primitivstem Werkzeug, meist kleinen selbst gebastelten Messern, hergestellt worden war, d<strong>an</strong>n<br />

gilt diesen h<strong>an</strong>dwerklich Begabten noch heute meine Bew<strong>und</strong>erung. Gut in Erinnerung habe ich<br />

noch ein Spielzeug, wo zwei Bären abwechselnd mit einem Hammer auf einen Amboss schlugen.<br />

Ein zweites Spielzeug, mit viel Aufw<strong>an</strong>d gefertigt, hatte es mir besonders <strong>an</strong>get<strong>an</strong>. Auf einer r<strong>und</strong>en<br />

Platte mit Griff, wie einer Art Tischtennisschläger, waren etwa 4 bis 5 Hühner befestigt, die<br />

abwechselnd mit einem gelenkigen Kopf nach Körnern pickten. Ein unter der Platte <strong>an</strong> Fäden befestigtes<br />

Holzstück zog bei einer leichten kreisförmigen Bewegung der Platte <strong>an</strong> den beweglichen<br />

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