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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

noss seine ungewohnte Freiheit <strong>und</strong> raste wie <strong>an</strong>gestochen umher <strong>und</strong> r<strong>an</strong>nte dabei alles um, was<br />

im Wege st<strong>an</strong>d. Meine Rettung <strong>und</strong> Lebensversicherung war immer die sogen<strong>an</strong>nte Mistkaule. Für<br />

12 Wohnungen, aber abgeteilt, gab es so eine Art abgedeckte, gemauerte Buchten für den Mist,<br />

dort kam das Schwein nicht hinauf. Schweinen gehe ich auch heute noch <strong>aus</strong> dem Weg.<br />

Auch wurde ich noch ständig in die Gartenarbeit einbezogen. Dies bedeutete vor allem Mistfahren<br />

oder <strong>an</strong>dere Tr<strong>an</strong>sporte mit dem H<strong>an</strong>dwagen. Das gehörte einfach dazu <strong>und</strong> es gab kein Murren.<br />

Und d<strong>an</strong>n gab es für mich gelegentlich besondere Aufgaben, die ich <strong>aus</strong>geprägt widerwillig erledigte.<br />

Ein Beispiel: Ich musste absichern, dass der Nachttopf von Werner immer gesäubert zur Verfügung<br />

st<strong>an</strong>d. Er brauchte ihn noch ständig für sein „großes Geschäft“. Unser Nachttopf war <strong>aus</strong><br />

Glas, ein Kriegserzeugnis. Metalle wurden für die Waffen- <strong>und</strong> Munitionsherstellung benötigt <strong>und</strong><br />

da gab es stets einfallsreiche Lösungen. Abgesehen vom Anblick eines durchsichtigen gefüllten<br />

Topfes, war das immer eine zum Erbrechen <strong>an</strong>regende Angelegenheit. Ich musste ja den Topf <strong>aus</strong><br />

der 3. Etage über den Hof <strong>und</strong> in unser Plumpsklo entleeren. Und das häufig, wenn es schon dunkel<br />

war.<br />

Eines Tages gab es für mich eine bis heute unvergessliche Katastrophe. Es war schon dunkel. Im<br />

Krieg, wo gr<strong>und</strong>sätzlich alle Fenster verdunkelt waren, hatte m<strong>an</strong> im Flur alle normalen Glühlampen<br />

durch blau eingefärbte <strong>aus</strong>get<strong>aus</strong>cht. Es war fast so eine Geisterbeleuchtung, die das Umfeld<br />

nur wenig <strong>aus</strong>leuchtete. Ich ging mit meinem unappetitlichen Topf die Treppe runter, kurz vor der<br />

unter uns liegenden Etage blieb ich mit meiner Trainingshose am gusseisernen verschnörkelten<br />

Geländer hängen <strong>und</strong> schoss etwa vier Stufen kopfüber nach vorn. Den Topf konnte ich retten, den<br />

Inhalt aber nicht. Obwohl ich schon sehr viele natürliche Sommersprossen hatte, kam eine Unmenge<br />

hinzu. Nachbars Wohnungstür, Wände <strong>und</strong> das gesamte Treppenh<strong>aus</strong>plateau der Etage<br />

sahen umfassend dekoriert <strong>aus</strong>. Über den Geruch will ich mich nicht <strong>aus</strong>lassen, ich rieche ihn immer<br />

noch.<br />

Und Strafe muss auch noch sein! Mutter drückte mir den Scheuerlappen in die H<strong>an</strong>d <strong>und</strong> ich durfte<br />

mein Missgeschick auch selbst wieder gutmachen. Der Geruch war aber <strong>aus</strong>gesprochen nachhaltig,<br />

wobei ich bei der Geisterbeleuchtung sowieso vieles nicht erwischt hatte. Wir hatten keine Dusche<br />

oder Bad. Es gab nur eine Waschschüssel. M<strong>an</strong> hatte so das Gefühl, beim Waschen nicht alles<br />

beseitigt zu haben.<br />

Das waren die hauptsächlichen Pflichten so im Alter zwischen 10 <strong>und</strong> 12 Jahren. Es gab aber auch<br />

die Kür, in der ich d<strong>an</strong>n doch sehr umf<strong>an</strong>greich eigenen Interessen nachgehen konnte. Die hatte<br />

ich von beiden elterlichen Seiten geerbt. Vater f<strong>an</strong>d sich in allen Gewerken zurecht <strong>und</strong> konnte eigentlich<br />

alles. Aber Mutter st<strong>an</strong>d ihm mit ihrem Improvisationstalent kaum nach <strong>und</strong> sie schneiderte<br />

auch viele Kleidungsstücke für uns Kinder selbst.<br />

Da ich den kleinen Bruder Werner kaum noch betreuen musste <strong>und</strong> er sich selbst alters<strong>an</strong>gemessene<br />

Abenteuer suchte, konnte ich meine Zeit selber pl<strong>an</strong>en. Spielzeuge hatten wir kaum, da war<br />

für den Kauf kein Geld da. Also bastelte m<strong>an</strong> sich selbst etwas. Das förderte h<strong>an</strong>dwerkliche Fähigkeiten<br />

<strong>und</strong> Fertigkeiten. So schnitzte ich einmal eine Vielzahl von Köpfen für ein „Kasperletheater“,<br />

schneiderte die Kleidung dazu <strong>und</strong> machte für die kleineren Kinder Vorstellungen. Wenn ich dar<strong>an</strong><br />

denke, dass das alles mit primitivstem Werkzeug entst<strong>an</strong>d, d<strong>an</strong>n bin ich fast heute noch stolz darauf,<br />

was m<strong>an</strong> alles so fertig brachte. Für Werner baute ich einen Roller, <strong>aus</strong> Mitleid, weil Gleichaltrige<br />

einen hatten <strong>und</strong> er nur zuschauen konnte, wenn sie rollerten. Das klappte auch, nur als ich<br />

ihn auch <strong>aus</strong>probieren wollte, hat er mein Gewicht nicht verkraftet.<br />

Entsprechend dem Zeitgeist <strong>und</strong> der politischen Erziehung <strong>und</strong> Einflussnahme st<strong>an</strong>den Kriegs-<br />

bzw. Geländespiele meist <strong>an</strong> erster Stelle. Dafür mussten Waffen her. Sie wurden für die Mehrzahl<br />

der Jungen <strong>aus</strong> dem Umfeld von mir gefertigt. Dazu gehörten Säbel, Gewehre, Pfeil <strong>und</strong> Bogen,<br />

eine Armbrust, Pistolen mit Gummizug zum Schießen für kurze Entfernungen u.v.m.<br />

Ein Katapult bzw. eine Steinschleuder hatten wir immer bei uns <strong>und</strong> dazu die größenmäßig erforderlichen<br />

Steine in der Hosentasche. Auch so ein Instrument k<strong>an</strong>n gefährlich sein. Wir haben das<br />

als Kinder nie so gesehen. Ein Katapult zählt heute offiziell zu den Waffen. Einmal hatte ein uns<br />

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