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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Meine Lehrerin war vom Inhalt des Aufsatzes so fasziniert, was ich alles <strong>aus</strong> dem Fenster sehen<br />

konnte, dass sie meinte: „Da muss ich euch einmal besuchen, um diesen Ausblick genießen zu<br />

können, ich k<strong>an</strong>n mir das gar nicht so richtig vorstellen.“ Für mich galt nur eins, das musst du verhindern.<br />

Die Lehrerin in unser nicht gerade wohnliches Stübchen lassen, das darf nicht sein! Aber<br />

so schön wie der Ausblick <strong>aus</strong> dem Fenster war die Benotung des Aufsatzes tatsächlich nicht. Die<br />

Kritik war allerdings auch berechtigt: „Aus so einer Sache hättest Du viel mehr machen können“,<br />

meinte sie. Für mich galt auch bei diesem Stoff: kein Drumherum, wenig Umschreibung, nur eine<br />

sachliche Aussage.<br />

In „Englisch“ hatten wir ein besonders, didaktisch gut gestaltetes Lehrbuch. Die Texte waren bildlich<br />

untermalt, so dass ich mit meinem fotografisch <strong>aus</strong>geprägten Gedächtnis die Texte häufig<br />

noch abrufen k<strong>an</strong>n <strong>und</strong> die dazugehörigen Bilder noch malen könnte. Und das, obwohl ich über 60<br />

Jahre kein Englisch gesprochen habe. In der Zeit der DDR gab es dafür keinen Bedarf. Wenn ich<br />

heute bei einem Ausl<strong>an</strong>dsaufenthalt für die Verständigung Englisch benötige, d<strong>an</strong>n zerlege ich<br />

diese Texte hinsichtlich Vokabeln <strong>und</strong> bin meist in der Lage, sie <strong>an</strong>zuwenden.<br />

Ich muss aber auch unserer damaligen Englischlehrerin, Fräulein Sinnhöfer, ein berechtigtes Lob<br />

<strong>aus</strong>sprechen. Sie hat sich viel Mühe gegeben, uns diese Fremdsprache schmackhaft zu machen,<br />

uns aber auch zu fordern. Sie verkörperte auch äußerlich eine richtige englische „Miss“, groß,<br />

schl<strong>an</strong>k <strong>und</strong> immer gepflegt.<br />

Diese Fremdsprache zu erlernen, fiel mir nicht schwer, weil es eine große Sprachverw<strong>an</strong>dtschaft<br />

mit unserem „Plattdeutsch“ gab. Aber wie auch in den <strong>an</strong>deren Fächern fehlte mir die Zeit zum Vokabellernen.<br />

Eigentlich die erste Bedingung zum Erlernen einer <strong>an</strong>deren Sprache. Ich setzte leider<br />

<strong>an</strong>dere Prioritäten. Nicht selten schrieb ich Vokabeln in mein spezielles Vokabelheft abends unter<br />

der Zudecke, die Taschenlampe zwischen die Knie geklemmt. Wenn ich d<strong>an</strong>n wirklich mal <strong>aus</strong> eigenem<br />

Antrieb zu H<strong>aus</strong>e in ein Buch geschaut habe, konnte ich mich auch bedenkenlos in der<br />

St<strong>und</strong>e melden <strong>und</strong> ein Lob war mir gewiss.<br />

Ich erinnere mich noch dar<strong>an</strong>, dass ich einmal einen von nur 4 Taschenkalendern bekam, weil ich<br />

so viel über die Germ<strong>an</strong>en erzählen konnte. Die interessierten mich aber tatsächlich. Übrigens waren<br />

die Germ<strong>an</strong>en ein unerschöpfliches Thema in Geschichte. Sie nutzte m<strong>an</strong> politisch, um Heldenmut,<br />

Kampf bis zum Tod <strong>und</strong> Siegeswillen uns <strong>an</strong>zuerziehen. Vielleicht war ich doch besser in<br />

der Schule, als ich mich selbst gesehen habe.<br />

Erlebnisreich war das Fach Physik. Besonders interess<strong>an</strong>t war der Unterricht deshalb, weil unser<br />

Lehrer, Dr. Jord<strong>an</strong>, viele Versuche machte <strong>und</strong> der Stoff dadurch sehr <strong>an</strong>schaulich vermittelt wurde.<br />

Aber erst einmal zu seiner Person. Dr. Jord<strong>an</strong> war der Rektor der Bismarckschule. Ein kleiner<br />

untersetzter M<strong>an</strong>n mit kaum Haaren auf dem Kopf. Aber irgendwie passte das zu ihm. Im sichtbaren<br />

Bereich seines Gebisses glänzte irgendwie eine Goldkrone, die seine allgemein fre<strong>und</strong>liche<br />

Erscheinung noch betonte. Als Lehrer war er ein wirklicher Sympathieträger, der auch immer sachlich<br />

<strong>und</strong> ruhig in Erscheinung trat. Besonders lustig war er <strong>an</strong>zusehen, wenn es irgendwo eine politische<br />

Ver<strong>an</strong>staltung gab <strong>und</strong> er in Marschformation in einer Offiziersuniform mit einem l<strong>an</strong>gen Säbel,<br />

meist hinten, wegen seiner kleinen Körpergröße, mitlief. M<strong>an</strong> hatte irgendwie das Gefühl, dass<br />

er immer den Säbel etwas <strong>an</strong>hob, damit er nicht <strong>an</strong> der Erde schleift. Aber vielleicht war das auch<br />

nur unsere kindliche Ph<strong>an</strong>tasie oder ein Wunsch in unserer Beobachtung.<br />

Drei Dinge habe ich in besonderer Erinnerung im Fach Physik. In einer St<strong>und</strong>e ging es um den<br />

Luftdruck, den Dr. Jord<strong>an</strong> besonders <strong>an</strong>schaulich darstellen wollte. Er brachte einen Bunsenbrenner<br />

mit, eine Glasröhre so ca. 8 mm Durchmesser, <strong>und</strong> eine Flasche Quecksilber. Seine Zielstellung<br />

war es, in eine einseitig verschlossene Röhre Quecksilber hineinzugießen, die Röhre umzudrehen<br />

<strong>und</strong> in eine Tasse zu stellen. Die Quecksilbersäule bzw. die Röhre sollte sich soweit entleeren,<br />

bis sie bei einer Höhe von etwa 76 cm stehen blieb. Das war das Gleichgewicht zum Luftdruck.<br />

Das G<strong>an</strong>ze beg<strong>an</strong>n damit, dass er den Bunsenbrenner zündete <strong>und</strong> in der Flamme die Glasröhre<br />

so erhitzen wollte, dass er sie wie ein Glasbläser <strong>an</strong>nähernd am Ende zuschmelzen konnte. Aber<br />

wenn m<strong>an</strong> das vorher nicht probiert hat, klappt es m<strong>an</strong>chmal nicht so wie gewollt. Es klappte leider<br />

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