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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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steckt. Andere hängten sich eine Werkzeugtasche um <strong>und</strong> taten so, als suchten sie Autowracks als<br />

Ersatzteilspender. Die zwei <strong>aus</strong> Kurl<strong>an</strong>d hatten sich bei uns im Morgengrauen auf dem Stallboden<br />

im Heu versteckt. Wir merkten das gleich früh durch die <strong>an</strong>gestellte Leiter. Natürlich erhielten alle<br />

von uns Provi<strong>an</strong>t, aber keine Gruppe hielt sich länger bei uns auf als einen Tag oder eine Nacht.<br />

Die Zeit zur Getreideernte war bereits gekommen. Getreide st<strong>an</strong>d genug auf den Feldern. Wir entschieden<br />

uns die zwei gr<strong>und</strong>stücksnächsten Felder abzuernten. Helmut hatte sich wieder einmal<br />

abgenabelt, er hatte sich eine Tätigkeit bei einem neu gegründeten staatlichen polnischen Unternehmen<br />

gesucht, das die Hauptverkehrsstraßen notdürftig in Ordnung bringen sollten. Es gab<br />

Straßenabschnitte, die durch Gr<strong>an</strong>ateinschläge kaum befahren werden konnten. Es war ein Unternehmen<br />

mit nur wenigen Leuten, aber zwei polnischen Chefs, die er überall mit einer Zweispännerkutsche<br />

hinfuhr, m<strong>an</strong>chmal auch nur zum Vergnügen. Für Helmut bedeutete diese Tätigkeit<br />

persönliche Sicherheit, <strong>an</strong>derseits genoss er aber auch <strong>aus</strong>gesprochene Freiheiten.<br />

Die Straßeninst<strong>an</strong>dsetzung war zu dieser Zeit ohnehin kaum möglich. Es gab weder B<strong>aus</strong>toffe<br />

noch Tr<strong>an</strong>sportmittel dafür. Helmut konnten wir somit für das Einbringen der Ernte kaum einpl<strong>an</strong>en.<br />

Opa Thieler <strong>und</strong> ich haben d<strong>an</strong>n mit der Sense das Getreide gemäht, Mutter hat es zu Garben geb<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> d<strong>an</strong>n wurde es zum Resttrocknen in Kuppen bzw. Hocken aufgestellt. Ich musste allerdings<br />

noch Zusatzelemente für die Sensen <strong>an</strong>fertigen <strong>und</strong> befestigen, so dass das abgesenste<br />

Getreide in einem Schwad, einer geschlossenen dichten Reihe, zum Liegen kam. Insgesamt war<br />

es mehr als ein Hektar, den wir gemäht haben. Nach dem Austrocknen wurde d<strong>an</strong>n alles mit einem<br />

H<strong>an</strong>dwagen in die Scheune gefahren. Sie wurde tatsächlich voll. Das Ausdreschen hatte noch Zeit,<br />

denn es war traditionell eine typische Winterarbeit.<br />

Etwas später, das Getreide auf den Feldern war bereits überreif, beobachteten wir in der Nähe der<br />

L<strong>an</strong>dsberg-Heilsberger Ch<strong>aus</strong>see, wie eine große Gruppe Frauen Getreidefelder mit den typisch<br />

russischen Sicheln abernteten. Es waren Frauen <strong>aus</strong> dem Lager von Preußisch Eylau. Typisch<br />

russisch! Erst hat m<strong>an</strong> die gesamte Erntetechnik in die Sowjetunion gebracht <strong>und</strong> jetzt Sicheln von<br />

dort beschafft um auf primitivste Weise das Getreide zu mähen. Zu ergänzen wäre noch, dass nur<br />

ein Bruchteil der Getreidefelder abgeerntet worden ist. Der größte Teil blieb auf dem Halm. Anderswo<br />

sind Menschen verhungert, insbesondere in den Lagern.<br />

Wir hatten jedenfalls für unseren Bedarf <strong>aus</strong>reichend geerntet <strong>und</strong> mit den <strong>an</strong>gebauten Kartoffeln<br />

hatten wir für den kommenden Winter vorgesorgt, vor<strong>aus</strong>gesetzt, niem<strong>an</strong>d nahm uns was weg.<br />

Problematischer war die Versorgung mit Fett <strong>und</strong> Fleisch. Diese Nahrungsmittel fehlten völlig <strong>und</strong><br />

die damit verb<strong>und</strong>enen Nährstoffe konnten dem Körper nicht zugeführt werden. So wurde ich im<br />

Frühjahr 1946 durch M<strong>an</strong>gelernährung nachtblind. Eine sehr belastende Situation, wenn alles tiefschwarz<br />

ist, <strong>und</strong> nur in gewissen Zeitabständen die normale Dunkelheit für Bruchteile von Sek<strong>und</strong>en<br />

aufblitzt.<br />

Um doch <strong>an</strong> ein wenig Fleisch zu kommen, versuchte ich, verwilderte Tauben einzuf<strong>an</strong>gen. Es war<br />

das einzige Federvieh, das überlebt hatte <strong>und</strong> sich zu großen Schwärmen zusammenf<strong>an</strong>d. Sie waren<br />

nach kurzer Zeit so verwildert, dass ein Einf<strong>an</strong>gen <strong>aus</strong>sichtslos war. Waghalsig versuchte ich<br />

<strong>an</strong> Nester zu gel<strong>an</strong>gen <strong>und</strong> der Erfolg war, dass nur federlose her<strong>an</strong>wachsende Tauben mein Eigen<br />

waren. Allerdings konnten sie noch nicht selbst Körner aufnehmen, sie wurden bisher noch<br />

vollständig von den Alten versorgt. Also blieb mir nichts weiter übrig, als sie von H<strong>an</strong>d zu füttern, d.<br />

h. Schnabel auf <strong>und</strong> Korn für Korn hinein. Bei fünf gefräßigen Tauben war mein Tag <strong>aus</strong>gefüllt.<br />

Futter zu finden war kein Problem. Auf den unbewohnten Gr<strong>und</strong>stücken f<strong>an</strong>d ich <strong>aus</strong>reichend Wicken,<br />

ein beliebtes Taubenfutter. Für den menschlichen Verzehr war diese Hülsenfrucht nicht geeignet.<br />

Wicken schmecken bitter. Vor dem Füttern musste ich die Wicken eine längere Zeit im<br />

Wasser quellen lassen, dadurch nahmen sie <strong>an</strong> Volumen zu <strong>und</strong> sicherten den Flüssigkeitsbedarf<br />

der Tauben ab. Die Tauben wuchsen schnell, fraßen auch bald selbst <strong>und</strong> waren sehr zahm. Sie<br />

gehörten fast zur Familie. Wenn ich mich gelegentlich vom Gr<strong>und</strong>stück entfernen wollte, passierte<br />

es oft, dass einzelne hinterher geflogen kamen <strong>und</strong> sich auf meine Schultern setzten.<br />

Zwei Tauben l<strong>an</strong>deten d<strong>an</strong>n eines Tages im Kochtopf. Das tat mir sehr leid, aber es war das ursprüngliche<br />

Anliegen. Mit den drei übrigen verb<strong>an</strong>d ich die Hoffnung, dass ein Pärchen darunter ist<br />

<strong>und</strong> Taubennachwuchs zu erwarten war. Diese Hoffnung ging nicht in Erfüllung, es waren drei<br />

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