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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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die Bauern allgemein Selbstversorger waren, f<strong>an</strong>den wir in den ersten Wochen genügend Vorräte.<br />

So gab es kaum Probleme mit Zutaten für Eintöpfe <strong>und</strong> Ähnlichem. Die Keller waren voll mit Kartoffeln,<br />

Kohl <strong>und</strong> <strong>an</strong>derem Gemüse. Auf den H<strong>aus</strong>böden lagerte meist Roggen <strong>und</strong> nicht selten bereits<br />

geschrotetes Getreide, sprich grobes Mehl. Auch f<strong>an</strong>d m<strong>an</strong> in der ersten Zeit noch recht viel<br />

gepökeltes Fleisch vom Schwein. Damit wussten die Russen nicht viel <strong>an</strong>zuf<strong>an</strong>gen, allerdings<br />

kippten sie die Fässer samt Inhalt oft um. Mit dem Umkippen ging auch die Salzlake verloren. Da<br />

wir nur selten Salz f<strong>an</strong>den <strong>und</strong> die Lake zum Salzen des Essens genommen wurde, gab es bald<br />

Engpässe. Doch in diesem Überlebenskampf ging es nur um die Gr<strong>und</strong>versorgung, die war letztlich<br />

gesichert. Die Versorgungssituation änderte sich schlagartig, wenn wir <strong>aus</strong> den jeweiligen<br />

Häusern gr<strong>und</strong>los vertrieben wurden <strong>und</strong> uns <strong>an</strong>derswo Unterkunft suchen mussten. Obwohl ich ja<br />

als Kind ein <strong>aus</strong>geprägt schlechter Esser war, habe ich von einem Tag zum <strong>an</strong>deren gelernt, dass<br />

m<strong>an</strong> alles essen k<strong>an</strong>n, sogar ohne Salz <strong>und</strong> <strong>an</strong>dere Gewürze. Das hat mich für mein späteres Leben<br />

geprägt.<br />

Für die Rote Armee war der Einmarsch nach <strong>Ostpreußen</strong> ein Einmarsch ins Schlaraffenl<strong>an</strong>d. Die<br />

Ställe waren voll Vieh, die Speicher <strong>und</strong> H<strong>aus</strong>böden voll Getreide, die Keller <strong>und</strong> Mieten lieferten<br />

bis in den Sommer hinein Kartoffeln <strong>und</strong> die Scheunen waren z. T. auch noch voll mit ungedroschenem<br />

Getreide. Hinzu kamen das Federvieh: Hühner, Enten, Gänse. Daher nahmen uns die<br />

russischen Soldaten bei ihren Plündertouren kaum Esswaren weg.<br />

In der ersten Zeit verging kaum ein Tag, wo wir nicht durch Russen belästigt wurden. Meist ging es<br />

darum, junge Frauen <strong>und</strong> Mädchen zu vergewaltigen <strong>und</strong> das häufig in größeren Gruppen <strong>und</strong> mit<br />

„Schl<strong>an</strong>gestehen“. Immer wieder waren es bei uns zwei junge Frauen, die diesem Martyrium <strong>aus</strong>gesetzt<br />

waren. Nicht selten kamen die Russen auch nachts. Bei den vielen Menschen, die wir auf<br />

dem Fußboden lagen, wurde mit Taschenlampen nur das Gesicht <strong>an</strong>geleuchtet ob es eine Frau<br />

war <strong>und</strong> sofort wurde die Betreffende in Anwesenheit aller vergewaltigt. Es wurde keine Ausnahme<br />

gemacht, auch die Hochschw<strong>an</strong>gere, die kurz vor der Entbindung st<strong>an</strong>d, wurde nicht verschont.<br />

Diese Situation war unser Alltag, aber es sollte noch schlimmer werden. Es war der 13. Februar<br />

1945, ein Dienstag, ich glaube, es war Fastnacht. Der Tag ging zur Neige, es fing bereits <strong>an</strong> zu<br />

dämmern. Unser Gehöft war etwa h<strong>und</strong>ert Meter vom wenig genutzten Fahrweg nach Albrechtsdorf<br />

entfernt. Von Albrechtsdorf kommend bewegte sich eine Gruppe Männer mit Bewachung <strong>und</strong><br />

einem Schäferh<strong>und</strong> in Richtung Reddenau. In der Höhe der Zufahrt zu unserem Gehöft machten<br />

sie Halt. Es war wieder so ein Komm<strong>an</strong>do, welches Männer für einen Tr<strong>an</strong>sport in die Sowjetunion<br />

zusammen trieb. Zwei Soldaten kamen zu uns ins H<strong>aus</strong> <strong>und</strong> forderten alle Männer auf, sich <strong>an</strong>zukleiden,<br />

Verpflegung mitzunehmen <strong>und</strong> den Soldaten zu folgen.<br />

Ein schnelles Verstecken in der Stallung oder im H<strong>aus</strong> war <strong>aus</strong>sichtslos, da der H<strong>und</strong> mit Sicherheit<br />

jeden aufgespürt hätte. Es war auch nicht <strong>aus</strong>zuschließen, dass sie den Betreffenden, den sie<br />

<strong>aus</strong> dem Versteck geholt hätten, auf der Stelle erschossen hätten. Ein Menschenleben galt zu dieser<br />

Zeit nichts. Bei uns wurden fünf Männer mitgenommen. Unter ihnen waren auch der Schwager<br />

unserer Bäuerin, den sie <strong>aus</strong> der Irren<strong>an</strong>stalt entlassen hatten, unser Vater <strong>und</strong> zwei ältere Männer,<br />

die bereits das 70. Lebensjahr überschritten hatten. So schnell verlor ich meinen Vater! Es war<br />

ein Abschied für immer. Die zwei siebzigjährigen Männer kamen nach einigen Tagen zurück. Sie<br />

erzählten folgendes:<br />

Sie wurden zu Fuß bis Rastenburg gebracht, die Stadt lag etwa 60 Kilometer östlich von uns entfernt<br />

<strong>und</strong> gehörte schon zu Masuren. Für die Unterbringung wurde das dortige Gefängnis genutzt.<br />

Sie wurden einzelnen verhört <strong>und</strong> für die Tr<strong>an</strong>sporte formiert. Bis zu 30 Zivilgef<strong>an</strong>gene wurden in<br />

dieser Zeit in einer Zelle untergebracht. Unser Vater hat mit seinen Russischkenntnissen wohl<br />

noch gedolmetscht. Weil er nicht schnell genug übersetzt hatte, erhielt er Schläge. Das ist die letzte<br />

Information, die wir von seinem Verbleib haben. Helmut hatte Glück. Obwohl er schon 16 Jahre<br />

alt war, sich aber jünger gemacht hatte, nahm m<strong>an</strong> ihn nicht mit.<br />

Fast alle Männer im arbeitsfähigen Alter sind in die Sowjetunion verschleppt worden. Bei Frauen<br />

war der Anteil geringer <strong>und</strong> die Aktion wurde auch früher beendet. Spätere Aktivitäten durch uns<br />

über den Suchdienst des DRK etwas über den Verbleib oder den Tod unseres Vaters zu erfahren,<br />

brachten keinen Erfolg. Selbst jetzt nicht, nach Öffnung der Archive in der früheren Sowjetunion.<br />

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