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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

hügeligen Gelände gel<strong>an</strong>gten wir aber unbeschadet zu unserem Gehöft zurück.<br />

Verloren zwischen den Fronten<br />

Vom ersten Kontakt mit der Roten Armee am 2. Februar war jetzt eine knappe Woche verg<strong>an</strong>gen.<br />

Nun wird es ernst, das war uns allen bewusst. Wir glaubten nicht mehr <strong>an</strong> die Einkesselung von<br />

L<strong>an</strong>dsberg, die Sowjets hatten sich lediglich neu formiert <strong>und</strong> sich mit Nachschub versorgt.<br />

Am nächsten Tag, im Morgengrauen, hörten wir schweres ununterbrochenes Artilleriefeuer: Abschuss<br />

<strong>und</strong> Einschlag! Wir deuteten dieses laut <strong>und</strong> leise falsch <strong>und</strong> meinten immer noch, dass<br />

„laut“ von der Wehrmacht abgefeuert wird <strong>und</strong> leiser der Einschlag zu hören war, natürlich weiter<br />

von uns entfernt. Wie sollten wir uns wieder einmal getäuscht haben. Wir schauten <strong>aus</strong> dem Fenster,<br />

es war bereits fast hell, da sahen wir kaum 100 Meter von uns entfernt die Einschläge in einer<br />

Wiesensenke. Unmittelbar d<strong>an</strong>ach erschienen zwei Wehrmachtssoldaten hastig mit einem<br />

Schwerverw<strong>und</strong>eten. Sie sp<strong>an</strong>nten einen leichten Wagen vom Bauern mit zwei Pferden <strong>an</strong> <strong>und</strong><br />

versuchten sich trotz Beschuss zu retten. Unser Bauer war tatsächlich noch darüber empört, dass<br />

sie die Pferde links <strong>und</strong> rechts vert<strong>aus</strong>cht eingesp<strong>an</strong>nten, das waren sie doch nicht gewöhnt, meinte<br />

er. M<strong>an</strong>cher macht sich zur falschen Zeit so seine Sorgen, obwohl das eigene Überleben zu diesem<br />

Zeitpunkt sicher Priorität hatte.<br />

Zu erwähnen ist noch, dass kurz vor dem Hellwerden viele Gehöfte in Br<strong>an</strong>d geschossen worden<br />

waren, um eine länger <strong>an</strong>haltende Ausleuchtung des Kampfgebietes zu erreichen. Dadurch verbr<strong>an</strong>nte<br />

viel Vieh in den Ställen, meist noch <strong>an</strong>gekettet. M<strong>an</strong> könnte auch unterstellen, dass auf<br />

diese Art <strong>an</strong>dere Leuchtmittel eingespart wurden. „Aber im Krieg ist jedes Mittel recht.“ Wir blieben<br />

in unserem H<strong>aus</strong> von einem Gr<strong>an</strong>ateinschlag verschont. Es dauerte nicht mehr l<strong>an</strong>ge, da kam das<br />

kämpfende Fußvolk, unterstützt von schwerer Technik, auf unser Anwesen zu. So weit das Auge<br />

reichte: „Soldaten, Soldaten, Soldaten!“ Die Sowjets wirkten eigentlich immer leicht verlumpt, der<br />

Vergleich mit der preußischen Exaktheit <strong>und</strong> Ordnung der Wehrmacht ist hier nicht zu ziehen. Jeder<br />

Soldat hatte einen kleinen dunklen Sack mit einem Strick übergehängt, in dem sich Verpflegung<br />

<strong>und</strong> Munition bef<strong>an</strong>den. Schon dies wirkte befremdlich <strong>und</strong> die Massen, die auf uns zukamen,<br />

steigerten unsere Angst. Es war g<strong>an</strong>z <strong>an</strong>ders, als das Erscheinen des kleinen Trupps am 2.<br />

Februar.<br />

Mit der unüberschaubaren Zahl von Soldaten kam auch ein P<strong>an</strong>zer auf uns zugefahren, dem ein<br />

Teil des Turms fehlte, das klaffende Loch war mit einer Zeltpl<strong>an</strong>e geschützt. Auch das erhöhte unsere<br />

Angst. Der P<strong>an</strong>zer stellte sich unmittelbar hinter das H<strong>aus</strong>, für ihn ein wirkungsvoller Schutz<br />

vor einem eventuellen Beschuss. Die Masse der Soldaten okkupierte das H<strong>aus</strong>, d. h. es gab nur<br />

Soldaten <strong>und</strong> nochmals Soldaten. Viele waren total übermüdet <strong>und</strong> schliefen mit der MPi abgestützt,<br />

auf der Stelle ein.<br />

Der kleine Werner, zu dieser Zeit sechs Jahre alt, nahm einen Strohhalm von unserer Lagerstätte,<br />

zerriss ihn <strong>und</strong> sagte zu einem Rotarmisten mit höherem Dienstgrad: Stroh kaputt! Der deutschen<br />

Sprache nicht mächtig, interpretierte er das als „Russ kaputt“. Er zog seine Pistole, entsicherte sie<br />

<strong>und</strong> tat so als wollte er ihn erschießen. Werner verhielt sich instinktiv, wiederholte das <strong>an</strong>schaulich,<br />

doch das Missverständnis war nicht <strong>aus</strong>geräumt. D<strong>an</strong>n lehnte Werner sich <strong>an</strong> das Knie des sitzenden<br />

Soldaten vertraut <strong>an</strong>, er spielte weiter mit dem Stroh, aber die Sp<strong>an</strong>nung blieb. Vater versuchte<br />

Einfluss zu nehmen, er sprach aber nicht russisch, was sicher geholfen hätte. D<strong>an</strong>n wurde der<br />

Pole herbeigeholt, der aufklären sollte. Und das mit Erfolg! Werner war <strong>aus</strong> seiner misslichen Situation<br />

gerettet.<br />

Den Kontrast dazu bildete ein junger Offizier, der sich d<strong>an</strong>ach länger in unserem Raum aufhielt. Er<br />

sprach ein auffallend gutes Deutsch <strong>und</strong> versuchte, mir das russische Alphabet zu erklären <strong>und</strong><br />

unserem gegenüberzustellen. Er tat das gekonnt lehrerhaft. Da er blaue Augen hatte <strong>und</strong> richtig<br />

sympathisch <strong>und</strong> gepflegt wirkte, konnte es <strong>aus</strong> unserer Betrachtung nur ein blauäugiger Jude gewesen<br />

sein. Anderen Russen sprachen wir solche Fähigkeiten ab. So haftete auch uns Kindern bereits<br />

eine Ideologie <strong>an</strong>, die ungerecht <strong>und</strong> unbegründet war.<br />

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