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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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hatten wir etwa 150 Kilometer vor uns, nun aber übermüdet bei eingeschränkter Kondition <strong>und</strong> es<br />

war schon reichlich spät.<br />

Einmal passierte Folgendes: Auf dem Marktplatz der Stadt hatten wir noch kurz <strong>an</strong>gehalten <strong>und</strong> ich<br />

hatte noch etwas <strong>aus</strong> dem Rucksack genommen, der auf dem Gepäckträger versp<strong>an</strong>nt war. Durch<br />

die Übermüdung hatte ich einen Riemen nicht richtig befestigt, er fiel runter, als ich beim Aufsteigen<br />

war <strong>und</strong> riss mir eine Vielzahl Speichen hinterein<strong>an</strong>der her<strong>aus</strong>. Ein Schock, im ersten Moment<br />

sah ich keine Lösung. Aber d<strong>an</strong>n improvisierte ich. Einige Speichen rädelte ich zusammen, weitere<br />

entnahm ich zwischendurch, so dass mein Hinterrad mit nur wenig seitlichen Schleifen durch die<br />

Gabel passte. Und so ging es d<strong>an</strong>n nach H<strong>aus</strong>e. Meine beiden Fre<strong>und</strong>e, die zu Beginn hinterherfuhren,<br />

meinten d<strong>an</strong>n: „Tu uns den Gefallen <strong>und</strong> fahre hinterher. Wir können das nicht mehr mit<br />

<strong>an</strong>sehen, wie das Hinterrad eiert. Es sieht <strong>aus</strong>, als würde gleich alles zusammenbrechen, vor allem<br />

wenn du schnell die Berge runter fährst.“ Das habe ich auch gemacht. Ich habe es bis zu H<strong>aus</strong>e<br />

geschafft, die Fahrraddecke war <strong>an</strong> verschiedenen Stellen durchgeschliffen fast bis zum Schlauch.<br />

Viel weiter hätte es nicht sein dürfen. Die folgende Nacht war <strong>aus</strong>gesprochen kurz. Früh ging es<br />

wieder normal zur Arbeit. Am Nachmittag gab’s d<strong>an</strong>n den zu erwartenden Durchhänger <strong>und</strong> die<br />

nächste Nacht glich alles <strong>aus</strong>. Es war ein gelungenes Wochenende mit unvergessenen Erlebnissen.<br />

Noch zwei typische Beispiele zum Thema „Fahrradunternehmungen“: Wir machten Urlaub 1952 in<br />

der Sächsischen Schweiz, es liefen gerade die Olympischen Spiele in Helsinki. Bei der Hinfahrt,<br />

wir waren wie üblich zu dritt, übernachteten wir in der Nähe von Pirna. In Pirna fragten wir in einer<br />

Gaststätte nach einer Übernachtungsmöglichkeit im Ort. Der <strong>an</strong>gesprochene Kellner, ein lustiges<br />

Kerlchen, n<strong>an</strong>nte uns eine Adresse. Es war schon dunkel. Wir fragten uns durch <strong>und</strong> f<strong>an</strong>den d<strong>an</strong>n<br />

auch das H<strong>aus</strong>. Es war eine kinderreiche Familie zu der er uns hingeschickt hatte. Die Frau hatte<br />

erst gar nicht begriffen, was wir wollten. Sie wohnte selbst auf kleinstem Raum mit ihren Kindern.<br />

Der Kellner hat sich bestimmt über seinen Spaß gefreut <strong>und</strong> dürfte das noch am gleichen Abend<br />

zum Besten gegeben haben. Mit roter Birne zogen wir ab <strong>und</strong> übernachteten in der freien Natur unter<br />

einem großen Busch, „Teufelszwirn“ gen<strong>an</strong>nt. Dieser erste Urlaubstag war trotzdem rom<strong>an</strong>tisch.<br />

Der Urlaub in der Sächsischen Schweiz war ein nachhaltiges Erlebnis. An den Wochenenden kamen<br />

von weit her die „Kraxler“, sprich Bergsteiger. Sie übernachteten wie wir in Scheunen, auf<br />

Dachböden oder in Lauben. Sie bildeten eine große Gemeinschaft ohne Ansprüche <strong>an</strong> Komfort,<br />

wo jeder für jeden da war. M<strong>an</strong> musste ein<strong>an</strong>der nicht unbedingt persönlich kennen. An einem Abend<br />

saßen wir in einer Gaststätte <strong>und</strong> tr<strong>an</strong>ken eine Kleinigkeit. Es dauerte nicht l<strong>an</strong>ge, da war der<br />

Raum voll, m<strong>an</strong> rückte zusammen, jeder f<strong>an</strong>d noch einen Platz. Eine Gitarre oder ein Akkordeon<br />

war immer dabei, es wurde gesungen <strong>und</strong> Stimmung gemacht. Ein Glas Gurken <strong>und</strong> <strong>an</strong>deres wurde<br />

herumgereicht, jeder nahm sich etwas her<strong>aus</strong>, wir gehörten dazu. Ob es heute noch so etwas<br />

gibt? In dieser Form sicher nicht, etwas eingeschränkt haben aber die Bergsteiger ihre Traditionen<br />

wohl noch bewahrt. Die Rückfahrt, etwa 200 Kilometer, war eine Tagestour <strong>und</strong> wir empf<strong>an</strong>den sie<br />

nicht als sehr <strong>an</strong>strengend. Wir waren das Radfahren über eine längere Strecke gewöhnt.<br />

Auf einer Tagestour nach Berlin, Es war schon nach der Währungsreform 1948, hatten wir die Absicht,<br />

Fahrradteile zu kaufen, die es bei uns nur schwer gab. Durch den damaligen Wechselkurs<br />

waren diese für uns recht teuer, aber wenn m<strong>an</strong> dringend etwas brauchte, musste m<strong>an</strong> Kompromisse<br />

eingehen. Mein Fre<strong>und</strong> Helmut <strong>und</strong> ich hatten uns verabredet <strong>und</strong> es sollte zeitig früh losgehen.<br />

Berlin lag reichlich 200 Kilometer entfernt, also eine Tagestour. Wir hatten von Bek<strong>an</strong>nten für<br />

eine mögliche Übernachtung eine Adresse im Baumschulenweg bekommen.<br />

Früh, die Ernüchterung: Regen! Fahren oder nicht fahren. Wir entschieden uns erst nach Halle zu<br />

fahren, <strong>und</strong> einen „Lederolm<strong>an</strong>tel“ zu kaufen. So etwas gab es schon frei im normalen Geschäft.<br />

Lederol war ein kaschiertes Stoffgewebe, das als regendicht galt. Allerdings nicht <strong>an</strong> den Nähten.<br />

Lederolmäntel erfolgreich erworben, ging es los. Gleich vornweg: Es hat relativ kräftig durchgeregnet<br />

bis Berlin. Wir wurden nass von den Füßen bis zum Po. In Berlin war es bereits Nacht <strong>und</strong> wir<br />

suchten die <strong>an</strong>gegebene Adresse. Baumschulenweg klappte, H<strong>aus</strong>nummer nicht. Eine Möglichkeit:<br />

ein U-Bahnhof. U-Bahnhof gesucht, es zog wie Hechtsuppe, also wieder r<strong>aus</strong> <strong>aus</strong> der Unterwelt.<br />

Zu der Zeit gab es keine erkennbare Sektorengrenze, zumindest nachts, <strong>und</strong> so wechselten<br />

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