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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Die Herbstwinde waren die Zeit des Drachensteigens. Mein Drachen war immer ein Eigenprodukt,<br />

selbst die Holme wurden mit dem Messer geschnitzt. Ich bevorzugte den „Rechteckdrachen“. Er<br />

hatte mehr Angriffsfläche für den Wind <strong>und</strong> flog ruhiger. Ich baute auch welche für <strong>an</strong>dere Jungs.<br />

Geklebt wurde das Besp<strong>an</strong>npapier immer mit einer nicht mehligen Pellkartoffel. Ich hatte immer eine<br />

griffbereit auf dem Schr<strong>an</strong>k in der Küche. Gelegentlich wurde sie erneuert. An Tagen, wo viele<br />

gleichzeitig ihre Drachen steigen ließen, passierte es schon, dass bei zu geringem Abst<strong>an</strong>d Drachen<br />

ein<strong>an</strong>der verhakelten <strong>und</strong> abstürzten.<br />

Zum Drachensteigenlassen nutzen wir die <strong>an</strong>grenzende Viehkoppel gleich in Verlängerung unserer<br />

Häuserreihe. Nicht selten passierte es, dass ein Drachen beim Absturz in die Hochsp<strong>an</strong>nungsleitung<br />

geriet. Es wurde mit Vorsicht versucht, den Drachen abzuschneiden. Gegebenenfalls überließ<br />

m<strong>an</strong> ihn seinem Schicksal. Angeblich sollte m<strong>an</strong>che Schnur leitfähig sein, zumindest bei Nässe.<br />

M<strong>an</strong>chmal riss auch eine Schnur, <strong>und</strong> bei starkem Wind flog der Drachen für immer davon.<br />

Eine g<strong>an</strong>z besondere Möglichkeit für meine h<strong>an</strong>dwerkliche Entwicklung bot sich beim Flugmodellbau.<br />

Dafür gab es innerhalb der Org<strong>an</strong>isation NSFK (Nationalsozialistischer Fliegerkorps) eine<br />

Sektion Flugmodellbau. Für viele war diese Org<strong>an</strong>isation eine Vorstufe zur Piloten<strong>aus</strong>bildung, um<br />

d<strong>an</strong>n zur Luftwaffe einberufen zu werden.<br />

Einmal in der Woche, <strong>an</strong> einem Nachmittag, konnten wir in einem früheren Geschäftsraum nach<br />

Vorlagen Flugmodelle bauen. Geleitet hat das so ein nichtkriegstauglicher älterer Herr, der stets in<br />

seiner fliegergrauen NSFK- Uniform mit einem kleinen Motorrad erschien. Der hatte so <strong>aus</strong>geprägt<br />

starke O-Beine, dass wir immer sagten „m<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n da ein Komissbrot durch werfen“. Er beschaffte<br />

immer das erforderliche Material, aber Hinweise oder Anleitungen zum Basteln gab er nie. Was wir<br />

nicht von älteren Mitgliedern abschauen konnten, musste m<strong>an</strong> sich selbst <strong>aus</strong>denken. Im Prinzip<br />

war das recht fördernd. Insgesamt gab es für mich keine Probleme, obwohl ich zu der Zeit nur 11<br />

bis 12 Jahre alt war. Die Flugmodelle hatten konkrete Namen, so z.B. Jungvolk, Baby, Nettelbeck<br />

<strong>und</strong> <strong>an</strong>dere. Der jüngste Modelltyp mit einer großen Sp<strong>an</strong>nweite hieß „Rhön“. Sicher st<strong>an</strong>den Rhön<br />

<strong>und</strong> Wasserkuppe Pate, denn bereits damals gab es dort schon eine der bek<strong>an</strong>ntesten Segelfliegerschulen<br />

Deutschl<strong>an</strong>ds. Leider wurde dieses Modell nicht mehr fertig, unsere Modellb<strong>aus</strong>tation<br />

wurde aufgelöst. Vermutlich fehlten d<strong>an</strong>n in den fortgeschrittenen Kriegsjahren die materiellen<br />

Vor<strong>aus</strong>setzungen.<br />

Was auch zu den besonderen Erlebnissen im Herbst gehörte, das waren die Kartoffelfeuer mit dem<br />

Garen von Kartoffeln. Nach der Kartoffelernte fiel eine große Menge Kartoffelkraut <strong>an</strong>, das noch<br />

l<strong>an</strong>ge auf den Äckern liegen blieb <strong>und</strong> richtig abtrocknete. So ein besonderes Ereignis sprach sich<br />

durch die Vorbereitung schnell herum <strong>und</strong> wir waren meist eine große Meute. Alle schleppten das<br />

Kartoffelkraut her<strong>an</strong> <strong>und</strong> es wurde ein großer Berg aufgetürmt. Die Besitzer der Äcker hatten nichts<br />

dagegen, letztlich haben wir ihnen eine Arbeit abgenommen. M<strong>an</strong>chmal klauten wir auch noch<br />

Stroh von einem Bauern in der Nähe, wenn das Kartoffelkraut zur Neige ging. Ein <strong>an</strong>gebr<strong>an</strong>ntes<br />

Stück Papier diente als Lunte <strong>und</strong> in kurzer Zeit br<strong>an</strong>nte unser Riesenfeuer. Zwischendurch wurden<br />

auf den abgeernteten Äckern Kartoffeln gesammelt, die meist beim Ausgraben in der Erde<br />

geblieben waren. Wir brauchten eine Menge, denn wir waren ja viele Jungs. Wenn das Kartoffelkraut<br />

abgebr<strong>an</strong>nt war, wurden die Kartoffeln in die Glut zum Garen gelegt, das brauchte seine Zeit.<br />

Aber am Feuer zu sitzen, das strahlte immer eine Rom<strong>an</strong>tik <strong>aus</strong>. Anschließend f<strong>an</strong>d die gerechte<br />

Verteilung der Kartoffeln statt. Außen verkrustet <strong>und</strong> schwarz wie Kohle, so sahen auch nach dem<br />

Essen unsere Hände <strong>und</strong> „Mäuler“ <strong>aus</strong>. Aber gr<strong>und</strong>sätzlich schmeckten diese Kartoffeln besser als<br />

die zu H<strong>aus</strong>e gekochten.<br />

M<strong>an</strong> könnte noch vieles über die recht abenteuerliche <strong>Kindheit</strong> erzählen. Irgendwie war m<strong>an</strong> körperlich<br />

immer aktiv <strong>und</strong> freiwillig, sportlich in Bewegung. Es gab auch <strong>an</strong>dere Erlebnisse, die sich<br />

im Leben nie wiederholen sollten. So auch das Folgende: Wir hatten, wie damals üblich, ein<br />

Plumpsklo. Jede Wohnung natürlich ein eigenes, <strong>und</strong> so waren sechs in einer Reihe <strong>an</strong>geordnet,<br />

aber die Sammelgrube gab’s gemeinsam. Für die Entleerung gab es außerhalb einen Schacht mit<br />

Deckel, der für uns auch als Start <strong>und</strong> Ziel beim Versteckspiel diente. Die Entleerung erfolgte zeitlich<br />

in einem festen Zyklus mit der von uns so bezeichneten „Scheißk<strong>an</strong>one“.<br />

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