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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Ich verhalf dem Werner, als er d<strong>an</strong>n schon größer war, zu einer noch heute sichtbaren Narbe auf<br />

seiner H<strong>an</strong>d. Das Unheil lief wie folgt ab: Mit Hilfe einer St<strong>an</strong>ge wollte ich gemeinsam mit einem<br />

<strong>an</strong>deren Jungen <strong>aus</strong> unserem H<strong>aus</strong> Spatzen auf dessen Stallboden f<strong>an</strong>gen. Dafür schob ich eine<br />

St<strong>an</strong>ge durch ein Loch in einem kleinen Fenster. Ein weiteres Stück Scheibe brach dabei ab <strong>und</strong><br />

fiel etwa 4 Meter in die Tiefe. Werner wollte zeitgleich unbedingt über die aufgestellte Leiter zu uns<br />

hoch auf den Stallboden. Wiederholt hatte ich ihn aufgefordert, da unten wegzugehen. Aber wie<br />

das so bei den Kleinen ist, sie wollen unbedingt dorthin, wo die Großen sind. Wir hatten Glück im<br />

Unglück, denn die Scheibe traf hochk<strong>an</strong>t nur die H<strong>an</strong>d. Nur wenige Zentimeter weiter <strong>und</strong> es hätte<br />

ein Stück Nase fehlen können oder die Schädeldecke wäre durchschlagen. Das Stück Glas war<br />

sehr dick <strong>und</strong> entsprechend schwer. So fehlte nur her<strong>aus</strong>geschlagenes Fleisch, aber nicht wenig!<br />

Der kleine Trost war, so etwas heilt ja von selbst, auch wenn es ein Weilchen dauert. Es blutete<br />

fürchterlich. Ich holte eine Art H<strong>an</strong>saplast <strong>und</strong> versuchte das Blut zu stillen. D<strong>an</strong>n wollte ich die<br />

W<strong>und</strong>e in der Sonne trocknen, aber das klappte auch nicht, die W<strong>und</strong>e war zu groß.<br />

Zu dem H<strong>an</strong>saplast im Krieg noch eine Anmerkung: Im zivilen Bereich gab es nur Ersatzpflaster.<br />

Eine Art Krepppapier, wie es heute die Maler verwenden. In der Mitte war ein Stückchen Mull befestigt.<br />

Diese Pflaster waren so steif, dass sie nie <strong>an</strong> der W<strong>und</strong>e <strong>an</strong>lagen <strong>und</strong> das Blut sich seinen<br />

Weg weiterhin nach außen suchte.<br />

Werner wurde zunehmend blasser <strong>und</strong> hatte das Bedürfnis sich hinzulegen. Mutter war auf dem<br />

Acker <strong>und</strong> kam erst abends zurück. Irgendwie hatte sie Verdacht geschöpft. Beim Hochgehen in<br />

die Wohnung hatte sie auf den Treppenstufen eine Menge Bluttropfen entdeckt, also musste etwas<br />

passiert sein. Sie fragte d<strong>an</strong>n nach dem Pflaster <strong>und</strong> Werners Verletzung. Ich bagatellisierte das<br />

G<strong>an</strong>ze. Mutter legte die W<strong>und</strong>e frei <strong>und</strong> war nicht wenig erschrocken. Werner bekam sogar W<strong>und</strong>fieber<br />

<strong>und</strong> ich glücklicherweise keine Prügel.<br />

In seinem späteren Leben, meist noch als Kind, gab es immer wieder Versuche, sich durch Leichtsinn<br />

selbst zu verstümmeln. Einmal spielte er mit einer Forke, sprich Mistgabel, auf einem unserer<br />

Äcker am Torfbruch. Er warf die Forke immer wieder in die Luft; sie sollte in der Erde stecken bleiben.<br />

Mit seiner eingeschränkten kindlichen Kraft, er war erst reichlich 4 Jahre alt, klappte das nicht.<br />

Aber geklappt hat, dass er auf eine Zinke der liegenden Forke trat, natürlich barfuß. Die durchstach<br />

den Fuß <strong>und</strong> guckte oben wieder r<strong>aus</strong>. Wegen solcher „Kleinigkeiten“ wurde früher kein Arzt aufgesucht<br />

<strong>und</strong> das Wort „Tet<strong>an</strong>us“ war unbek<strong>an</strong>nt. Das heilt ja auch so, aber <strong>aus</strong>gewaschen wurde<br />

die W<strong>und</strong>e schon. Mutter hat diese Spielerei gar nicht mitbekommen, sparte d<strong>an</strong>n aber nicht mit<br />

Worten. Mit Sicherheit beschleunigte sie aber damit den Heilungsprozess.<br />

Später, beim Rodeln, riss er sich ein beachtliches Stück Fleisch <strong>aus</strong> der Wade. Ein Zaunpfahl<br />

st<strong>an</strong>d genau dort, wo der Schlitten mit ihm l<strong>an</strong>g fahren wollte. Ich glaube, es kam auch zu W<strong>und</strong>fieber.<br />

Im Herbst 1946, noch in <strong>Ostpreußen</strong>, kürzte er seinen linken Daumen so um knapp ein halbes<br />

Glied. Das war wohl das Nachhaltigste <strong>an</strong> Verletzungen mit bleibenden Folgen.<br />

Aber einem Sonntagskind k<strong>an</strong>n ja nicht viel passieren, heißt es wohl. Er versuchte es aber trotzdem<br />

immer wieder sich zu „verstümmeln“, oder <strong>an</strong>ders gesagt, „die Versuchung kam immer wieder“.<br />

Eines Tages, schon im fortgeschrittenen Kindesalter, wir wohnten bereits in Bad Lauchstädt,<br />

f<strong>an</strong>d er mit <strong>an</strong>deren Jungs eine Blechkapsel auf der Straße. Sie hatte etwa die Größe einer kleinen<br />

Kinderh<strong>an</strong>d. Es gab ein Oberteil <strong>und</strong> ein Unterteil, das Oberteil schön rot lackiert. M<strong>an</strong> wollte schon<br />

wissen, was da drin war! Gewaltfrei ließ sich das Ding nicht öffnen. Es wurde schnell ein Stein gesucht<br />

als feste Unterlage. Ein zweiter Stein diente als Hammer, vergleichbar mit dem F<strong>aus</strong>tkeil unserer<br />

ältesten Vorfahren. Im Schneidersitz, Unterlage zwischen den Beinen, wurde auf die Kapsel<br />

eingehauen. Und d<strong>an</strong>n krachte es! Es h<strong>an</strong>delte sich um eine Sprengkapsel der Deutschen Reichsbahn<br />

<strong>und</strong> durch die Explosion mit der entsprechenden Sprengwirkung schlug der feinkörnige S<strong>an</strong>d<br />

<strong>und</strong> Dreck in die Beinoberflächen, so dass nach dem Abheilen alles wie eine großflächige<br />

Schwarztätowierung <strong>aus</strong>sah, natürlich dauerhaft.<br />

Da es heute solche Sprengkapsel nicht mehr gibt, einige Erläuterungen dazu. Bei der Reichsbahn<br />

gab es früher so gen<strong>an</strong>nte Streckenläufer. Sie kontrollierten täglich die Schienen, ihre Befestigung<br />

<strong>und</strong> den allgemeinen Zust<strong>an</strong>d einer vorgegebenen Strecke. Bei uns waren es 11 Kilometer bis zur<br />

nächsten Stadt. Meist war es so, dass beim Hing<strong>an</strong>g die eine Schiene, beim Rückweg die <strong>an</strong>dere<br />

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