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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

seiner Zeit bei der Sprengung der LKWs am Ortsr<strong>an</strong>d eingesteckt hatte. Dies war d<strong>an</strong>n Anlass für<br />

ein längeres Gespräch zwischen dem Soldaten <strong>und</strong> dem Offizier. Dabei fiel das Wort „Soldat“. Ich<br />

fühlte mich irgendwie als Soldat bezeichnet <strong>und</strong> erklärte, dass ich in meinem Alter kein Soldat sein<br />

k<strong>an</strong>n <strong>und</strong> erläuterte, wo ich das Messer herhatte. Aber weil ich das Wort „Soldat“ verst<strong>an</strong>den hatte,<br />

das vermutlich im Russischen ebenso hieß, war m<strong>an</strong> nun der Meinung, dass ich russisch sprechen<br />

bzw. verstehen müsse. Wieder eine völlig neue Situation, die sich aber bald zum Guten wendete.<br />

Ich wurde befragt, wo meine Eltern zu finden seien. Nun führte ich Dolmetscher <strong>und</strong> Offizier ins etwa<br />

fünf Minuten entfernte H<strong>aus</strong>. Der Offizier <strong>und</strong> Dolmetscher sprachen mit meinem Vater. Im<br />

Prinzip lieferten sie mich unbeschadet bei meinen Eltern ab mit der deutlichen Ermahnung, dass<br />

ich mich unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht außerhalb des H<strong>aus</strong>es aufhalten solle. Undenkbar!<br />

Auch das gab es. Das Verhalten <strong>und</strong> H<strong>an</strong>deln dieser sowjetischen Soldaten passte so<br />

gar nicht zu meinen bisherigen Erfahrungen. Aber wir sollten es später auch <strong>an</strong>ders erfahren.<br />

Nach dieser Begebenheit hatten wir nun folgenden Pl<strong>an</strong>: Wir brechen bei fortgeschrittener Dämmerung<br />

auf, werden die Dorfstraße weitgehend meiden <strong>und</strong> vorwiegend durch die Vorgärten der<br />

Häuser gehen. Bis zum Dorfende war es etwa ein Kilometer. Das Vorwärtskommen unter den unwegsamen<br />

Bedingungen, dazu 18 Personen, Kinderwagen, Kleinkinder <strong>und</strong> ältere Menschen, war<br />

zeitaufwendig, aber diesmal ging unser Pl<strong>an</strong> auf. Vom Dorfende bis zum Gehöft Kohn auf dem Abbau<br />

war es etwa auch ein reichlicher Kilometer, aber es gab den befestigten Fahrweg dorthin <strong>und</strong><br />

keine Russen. Es war endgültig dunkel geworden <strong>und</strong> wir erreichten problemlos das Anwesen.<br />

Was erwartete uns nun dort? Auch hier hatte sich eine größere Menschengruppe niedergelassen.<br />

Unter ihnen waren noch ein früherer Knecht des Bauern <strong>und</strong> die „Wirtschafterin“, eigentlich wäre<br />

die Bezeichnung Magd richtiger. Es war eine noch relativ junge Frau, die mit ihren strähnigen roten<br />

Haaren <strong>und</strong> ihrem gesamten Äußeren ungepflegt wirkte. Ich erwähne es ungern, aber sie blieb von<br />

Vergewaltigungen weitestgehend verschont. Da wir nur ein Dach über dem Kopf bzw. eine Bleibe<br />

haben wollten, war unser Ziel vorerst erfüllt. Wir schliefen einfach auf dem Fußboden, zusammengedrängt<br />

in einem großen Zimmer <strong>und</strong> in der relativ großen Wohnküche. Andere Räume blieben<br />

ungenutzt. Auch hier galt: In einer großen Gruppe fühlt m<strong>an</strong> sich sicherer.<br />

Am nächsten Morgen bei Tageslicht erfassten wir als Erstes das Umfeld des Gehöftes. Die Scheune<br />

<strong>und</strong> ein Teil der Stallung waren abgebr<strong>an</strong>nt. Es st<strong>an</strong>d nur noch ein Stall, in dem früher die Kühe<br />

<strong>und</strong> Pferde untergebracht waren. Auf dem Hof, unweit vom Wohnh<strong>aus</strong>, lag ein totes Pferd. Ein<br />

H<strong>und</strong> lief eingeschüchtert, fast apathisch auf dem Hof herum. Aus Hunger versuchte er die Pferdeschnauze<br />

<strong>an</strong>zufressen. Die war gefroren <strong>und</strong> er hatte nur wenig Erfolg. In dem noch vorh<strong>an</strong>denen<br />

Stall bef<strong>an</strong>d sich eine vom Hof abgew<strong>an</strong>dte Tür. Unmittelbar neben der Tür <strong>an</strong> der Außenw<strong>an</strong>d saß<br />

ein toter russischer Soldat. Er muss schwer verw<strong>und</strong>et seinen Verletzungen erlegen sein, denn<br />

Beine <strong>und</strong> Arme waren in voller Länge in durchblutete Binden gehüllt. Da der Boden tief gefroren<br />

war, hatte m<strong>an</strong> ihn sicher nicht beerdigen können. Andererseits waren wir verw<strong>und</strong>ert, dass er<br />

nicht zu einem Sammelpunkt gebracht worden war <strong>und</strong> hier einfach abgelegt wurde. Wiederholt<br />

wurden wir von russischen Soldaten zur Rede gestellt, warum der tote Soldat dort sei. Wir wurden<br />

sogar mehrmals verdächtigt, ihn getötet zu haben. Sol<strong>an</strong>ge wir uns auf diesem Gehöft aufhielten,<br />

wurde er nicht abtr<strong>an</strong>sportiert.<br />

Auf einer am Gehöft <strong>an</strong>grenzenden Viehkoppel lagen etwa 40 tote Kühe. Sie haben sicher die<br />

Strapazen nicht überlebt, denn sie hatten keine sichtbaren Verletzungen. Mit den Stallungen war<br />

auch das gesamte Feuerungsmaterial für den Winter verbr<strong>an</strong>nt. Gefeuert wurde vor allem mit Torf,<br />

den die Bauern meist selber auf ihren Wiesen stachen. Auf dem Nachbargr<strong>und</strong>stück, knapp h<strong>und</strong>ert<br />

Meter von uns entfernt, war alles intakt <strong>und</strong> wir versorgten uns von dort. Direkt am Verbindungsweg<br />

dorthin lag ein gefallener deutscher Soldat. Er lag <strong>aus</strong>gestreckt auf dem Rücken, als<br />

hätte m<strong>an</strong> ihn aufgebahrt. Die Stiefel hatte m<strong>an</strong> ihm <strong>aus</strong>gezogen. Irgendwie wirkte das seltsam, bei<br />

der Kälte nur in Socken so daliegend. So können sicher nur Kinder denken.<br />

Im H<strong>aus</strong> des Nachbargr<strong>und</strong>stücks hatten auch viele Menschen Unterschlupf gesucht zu denen wir<br />

allerdings wenig Kontakt hatten. M<strong>an</strong> traute sich kaum <strong>aus</strong> dem H<strong>aus</strong> <strong>und</strong> wollte auch vermeiden,<br />

gesehen zu werden. Das lockte immer vagab<strong>und</strong>ierende Russen <strong>an</strong>. In der Küche hatte bald die<br />

Mutter unserer Bäuerin, Frau L<strong>an</strong>gh<strong>an</strong>s, das Heft <strong>an</strong> sich gerissen. Das war bei ihrer herrschsüchtigen<br />

Art nicht <strong>an</strong>ders zu erwarten. Gekocht wurde meist im größten Kochtopf für alle im H<strong>aus</strong>. Da<br />

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