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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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meine Ged<strong>an</strong>ken. Denn diese Generation war fast <strong>aus</strong>nahmslos zur Wehrmacht einberufen <strong>und</strong> irgendwo<br />

<strong>an</strong> der Front. Dass m<strong>an</strong> bei entsprechenden Beziehungen als „unabkömmlich“ eingestuft<br />

werden konnte, war mir damals nicht bek<strong>an</strong>nt. Ich wusste nur, dass bei Musterungen das „KV“ typisch<br />

war. Ausgesprochen: Kriegsverwendungsfähig.<br />

Zurück zur Treibjagd. Zeit <strong>und</strong> Treffpunkt waren l<strong>an</strong>gfristig bek<strong>an</strong>nt <strong>und</strong> im Prinzip war das g<strong>an</strong>ze<br />

Dorf beteiligt. Das Tageslicht reichte gerade so für zwei Kessel, die aber auch einen flächenmäßig<br />

großen Ausg<strong>an</strong>g hatten. Die Einheimischen hatten traditionell ihre Rasseln oder Klappern dabei,<br />

ich nur meine Stimmbänder. Und d<strong>an</strong>n ging es los. In einem großen Durchmesser wurden wir <strong>aus</strong>gesetzt,<br />

in weitem Abst<strong>an</strong>d zuein<strong>an</strong>der. Die Jäger waren verteilt in diesen Treiberketten. Der Kessel<br />

wurde durch unser Vor<strong>an</strong>schreiten immer kleiner <strong>und</strong> die Treiberkette immer enger. Wenn Hasen<br />

aufspr<strong>an</strong>gen, durften die Jäger nur nach vorn schießen. Hatte sich gelegentlich ein schlauer<br />

Hase versteckt <strong>und</strong> tauchte hinter der Treiberkette auf, durfte nicht nach ihm geschossen werden.<br />

Dieser hatte Glück. Wir mussten die geschossenen Hasen bis zu einem Sammelpunkt mitschleppen.<br />

Ich riss mich nicht d<strong>an</strong>ach, <strong>an</strong>dere Treiber suchten aber zahlenmäßig Erfolg <strong>und</strong> durften dafür<br />

Hasen schleppen. Mein unmittelbar nächster Jäger bei dem ersten Kesseltreiben war als Schütze<br />

eine richtige Pflaume. Er verschoss viel Munition, nur Hasen traf er nicht. Beim zweiten Kessel hatte<br />

ich in meiner Nähe einen relativ jungen Jäger. Bei ihm galt: ein Schuss, ein Hase. Er hatte bei<br />

der Schlussabrechnung tatsächlich die meisten erlegten Hasen. Für den g<strong>an</strong>zen Tag als Kesseltreiber<br />

bekamen wir 50 Pfennig. Den Abschluss krönte eine deftige Erbsensuppe. Ich war der Meinung,<br />

es war die schmackhafteste, die ich bis dahin gegessen hatte. Übrigens: Als Beute habe ich<br />

über T<strong>aus</strong>end Hasen in Erinnerung. Heute zweifle ich diese Zahl <strong>an</strong>. Allerdings waren tatsächlich<br />

zwei für die Treibjagd vorbereitete große Leiterwagen gefüllt, <strong>und</strong> die Hasen lagen dicht aufein<strong>an</strong>der.<br />

Obwohl unser Alltag immer noch scheinbarer ruhig <strong>und</strong> für uns Jungs als Suche nach Abenteuern<br />

verlief, kam doch mehr <strong>und</strong> mehr eine stärkere Zukunfts<strong>an</strong>gst auf. Immer häufiger kamen Trecks<br />

<strong>aus</strong> dem östlichen <strong>Ostpreußen</strong>, insbesondere <strong>aus</strong> dem Raum Masuren. Sie f<strong>an</strong>den stets kurzzeitig<br />

Unterkunft bei den Bauern <strong>und</strong> die Versorgung der Tiere wurde auch gewährleistet. Da unsere<br />

Bäuerin ihrem Charakter nach in ihren Zugeständnissen Grenzen setzte, gab sie ihre Räumlichkeiten<br />

kaum für Übernachtungen her. Somit schliefen Flüchtlinge wiederholt in unserem Zimmer. Das<br />

waren mitunter sechs bis acht Personen. Einmal kam wieder so ein Treck. Eine Großfamilie, nur<br />

Frauen <strong>und</strong> Kinder. Sie übernachteten wieder bei uns im Zimmer. Es war normal, dass m<strong>an</strong> sich<br />

d<strong>an</strong>n die Betten teilte. Die erforderlichen Gespräche mit unserer Bäuerin führte eine recht couragierte<br />

junge Frau auf Hochdeutsch, wir bekamen d<strong>an</strong>n mit, dass die Älteren mit Hochdeutsch<br />

Schwierigkeiten hatten. Unterein<strong>an</strong>der sprachen sie Platt, unserem vergleichbar, <strong>und</strong> wenn wir es<br />

nicht verstehen sollten, Masurisch. Erst später erfuhr ich, dass Masuren zweisprachig war <strong>und</strong> die<br />

Menschen polnischer <strong>und</strong> deutscher Nationalität, keine Probleme mitein<strong>an</strong>der hatten. Masurisch<br />

war für uns polnisch, es war im Prinzip ein polnischer Dialekt. M<strong>an</strong> hatte allerdings deutsche Wörter<br />

integriert, in der Aussprache jedoch etwas slawisiert. Diese Trecks, die sich relativ früh auf die<br />

<strong>Flucht</strong> begaben, dürften „das Reich“ noch ohne größere Verluste erreicht haben.<br />

Weihnachten 1944 feierten wir gemeinsam mit der Familie unserer Bäuerin. Unser Vater war immer<br />

noch auf dem Spitzenbahnhof, Nähe Gumbinnen <strong>und</strong> bekam keinen Urlaub. Helmut spielte<br />

den Weihnachtsm<strong>an</strong>n, denn es gab einen kleinen Neffen der Bäuerin, der auf den Weihnachtsm<strong>an</strong>n<br />

nicht verzichten sollte. Der Weihnachtsm<strong>an</strong>n hatte natürlich eine Wehrmachtsmütze auf,<br />

„denn er war ja direkt vom Vater des Jungen von der Front zu ihm geschickt worden!“ Ein bisschen<br />

eigenartig sah das schon <strong>aus</strong>. Diese trügerische Ruhe sollte bald ein Ende haben. Am 13. J<strong>an</strong>uar<br />

1945 beg<strong>an</strong>n mit einem zweistündigen Trommelfeuer die Schlussoffensive durch die Rote Armee<br />

bis zur endgültigen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945. Am 23. J<strong>an</strong>uar 1945,<br />

also nur zehn Tage später, war <strong>Ostpreußen</strong> bereits vom Deutschen Reich abgeschnitten.<br />

Die Front rückt näher<br />

Aber zurück zur Entwicklung der Situation in Reddenau <strong>und</strong> den <strong>Flucht</strong>plänen beim Her<strong>an</strong>nahen<br />

der Front. Mit dem Beginn der Offensive wurden die Reichsbahn<strong>an</strong>gehörigen, die noch in Frontnähe<br />

tätig waren, beurlaubt um zu ihren Familien fahren zu können. Da der Zugverkehr, zwar mit<br />

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