05.01.2013 Aufrufe

Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

cm. Somit lebten die alten Leute fast wörtlich zu nehmen auf einem Pulverfass. Vater Czimnik, so<br />

hießen die Leute, hatte bald die Gefahr erk<strong>an</strong>nt <strong>und</strong> für ihn st<strong>an</strong>d fest: Die Gr<strong>an</strong>aten müssen weg<br />

<strong>und</strong> so gelagert werden, dass die größte Gefahr geb<strong>an</strong>nt ist. In etwa h<strong>und</strong>ert Metern Entfernung<br />

war der Bahndamm relativ hoch. Es bot sich <strong>an</strong>, die Gr<strong>an</strong>aten auf der <strong>an</strong>deren Seite des Dammes<br />

abzulegen. Mit einer Schubkarre tr<strong>an</strong>sportierte er die Kisten zum Bahndamm, trug die Gr<strong>an</strong>aten<br />

mit einigen Anstrengungen einzeln auf die <strong>an</strong>dere Seite <strong>und</strong> hatte so die unmittelbare Bedrohung<br />

abgew<strong>an</strong>dt.<br />

Allgemein suchten wir Abst<strong>an</strong>d zu Munition <strong>und</strong> <strong>an</strong>deren Sprengmitteln. So war gleich zwischen<br />

dem Bahndamm <strong>und</strong> dem gen<strong>an</strong>nten Gehöft ein Doppelgürtel P<strong>an</strong>zerminen seinerzeit im Schnee<br />

verlegt worden. Es waren größere Holzkisten, gefüllt mit Sprengstoff <strong>und</strong> einem aufgesetzten Zünder,<br />

der sichtbar <strong>an</strong>zeigte, dass die Minen scharf gemacht worden waren. Um solche Dinge machten<br />

wir einen großen Bogen. Erst im Spätherbst 1945 wurden durch polnische Trupps Munition <strong>und</strong><br />

<strong>an</strong>dere Sprengmittel zusammengetragen <strong>und</strong> in einem Einschnitt der tiefliegenden Bahnstrecke<br />

gesprengt. Obwohl unser H<strong>aus</strong> einige h<strong>und</strong>ert Meter entfernt lag, flogen noch Munitionsteile über<br />

uns hinweg. M<strong>an</strong> hatte uns aber über die bevorstehende Sprengung informiert.<br />

Nun wieder zurück zu unserem Alltag im frühen Sommer 1945. Wir dehnten unsere Suchaktionen<br />

immer weiter <strong>aus</strong> <strong>und</strong> stöberten noch häufiger auf H<strong>aus</strong>böden <strong>und</strong> in Kellern zerschossener oder<br />

nicht bewohnter Gr<strong>und</strong>stücke herum, um noch Verwertbares, so auch Lebensmittel, zu finden. Das<br />

war immer mit gemischten Gefühlen verb<strong>und</strong>en. M<strong>an</strong> musste stets damit rechnen, auf einen Toten<br />

zu stoßen. Im Durchschnitt waren zwei Tote auf einem Gr<strong>und</strong>stück zu finden. In der Mehrzahl nicht<br />

beerdigt, also der Verwesung <strong>aus</strong>gesetzt. Unsere Suchaktionen beg<strong>an</strong>nen meist mit dem Wühlen<br />

in großen Müllbergen rings um das jeweilige Wohnh<strong>aus</strong>. Ich erwähnte bereits, dass es den sowjetischen<br />

Soldaten vorwiegend darum ging, alles zu zerstören, was deutsch war. Also machte m<strong>an</strong><br />

die Fenster auf <strong>und</strong> alles, was in den Räumen war, flog nach draußen. Sicher wurden auch Häuser<br />

als Quartiere für die Soldaten genutzt, aber die Müllberge rings um die Wohnhäuser waren die Regel.<br />

Und so konnte m<strong>an</strong> schnell einmal auf einen Toten stoßen. Mir schlug das Wühlen immer auf<br />

den Darm <strong>und</strong> ich musste um die „nächste Ecke“! Diesen psychischen Effekt habe ich mein Leben<br />

l<strong>an</strong>g behalten. Wenn ich heute im Keller oder auf dem Boden etwas suche, muss ich fast <strong>aus</strong>nahmslos<br />

mein Anliegen unterbrechen <strong>und</strong> zwischendurch die Toilette aufsuchen.<br />

Ein weiteres Beispiel: Wenige h<strong>und</strong>ert Meter von uns entfernt auf einem Berg st<strong>an</strong>d ein Gehöft, der<br />

frühere Besitzer war Bauer Bortz. Der Stall br<strong>an</strong>nte durch einen Artillerievolltreffer komplett <strong>aus</strong>.<br />

Die Kühe waren <strong>an</strong>gekettet <strong>und</strong> waren verbr<strong>an</strong>nt, jedoch nicht vollständig. Durch den Gest<strong>an</strong>k war<br />

m<strong>an</strong> immer bemüht, sich dort nicht länger aufzuhalten. Aber gerade <strong>an</strong> diesem H<strong>aus</strong> waren die<br />

Müllberge besonders hoch <strong>und</strong> m<strong>an</strong> war <strong>an</strong>imiert, bis in die Tiefe hinein zu wühlen. So war das<br />

auch dieses Mal. Helmut <strong>und</strong> ich stöberten erst im H<strong>aus</strong> herum, d<strong>an</strong>n war der Haufen vor dem<br />

H<strong>aus</strong> dr<strong>an</strong>. Und beim Wühlen griffen wir auf einen toten deutschen Soldaten. Beim Freilegen stellten<br />

wir fest, dass ihm der Kopf fehlte. Prinzipiell hatten wir uns <strong>an</strong> den Anblick von Toten gewöhnt.<br />

Aber wenn m<strong>an</strong> unerwartet einen verwesenden Körper <strong>an</strong>fasst, in der Annahme es ist nur ein<br />

brauchbares Kleidungsstück, da bekommt m<strong>an</strong> doch ein mulmiges Gefühl. Wenn d<strong>an</strong>n noch der<br />

Kopf fehlt, wird das G<strong>an</strong>ze deutlich belastender. Das Wühlen wurde abgebrochen <strong>und</strong> uns war<br />

klar, dass wir den Toten beerdigen mussten. Das wurde auf den nächsten Tag verschoben.<br />

Mit Spaten ging es d<strong>an</strong>n am nächsten Tag wieder auf den Berg. Der tote Soldat lag g<strong>an</strong>z dicht am<br />

H<strong>aus</strong>, auf einem gepflasterten Streifen. Wir beseitigten den Müll <strong>und</strong> gleich neben dem Pflaster<br />

hoben wir ein entsprechend großes Loch <strong>aus</strong>, um ihn hinein zuschieben bzw. hineinzurollen. Da er<br />

schon einige Monate dort lag, mochten wir ihn nicht mehr mit den Händen bewegen oder sogar<br />

tr<strong>an</strong>sportieren. Beim Ausheben des Loches kam ich immer häufiger mit meinem Kopf bzw. meiner<br />

Nase in die Nähe des Toten. Un<strong>an</strong>genehm! Wir hatten früher eine <strong>aus</strong>gesprochene Angst vor dem<br />

sogen<strong>an</strong>nten „Leichengift“, was aber nach heutigem Kenntnisst<strong>an</strong>d nicht gefährlich ist. Aber so ein<br />

Verwesungsgeruch lässt in der Ph<strong>an</strong>tasie alles zu. Der Tote war unter der Erde, für uns war die<br />

Aufgabe für diesen Tag erledigt.<br />

D<strong>an</strong>n kam, was kommen musste. Ich legte mich am Folgetag ins Bett, bekam Fieber <strong>und</strong> wurde<br />

richtig kr<strong>an</strong>k. Zu dem Bett, das ich zu dieser Zeit nutzte, muss ich noch etwas sagen, denn mit der<br />

zunehmenden Schwere der Kr<strong>an</strong>kheit, entst<strong>an</strong>den zusätzliche Probleme für mich. Mein Bett war<br />

88

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!