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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

bruch <strong>aus</strong>. So war wohl auch der Beschuss des Gr<strong>und</strong>stücks Kr<strong>aus</strong>e zu erklären. Von der Heilsberg-L<strong>an</strong>dsberger<br />

Ch<strong>aus</strong>see war nur das Dach des Wohnh<strong>aus</strong>es zu sehen. Das reichte als Zielorientierung,<br />

denn alle Treffer des Wohnh<strong>aus</strong>es lagen auf dieser Seite.<br />

Obwohl das Dach des Wohnh<strong>aus</strong>es erheblich beschädigt war, war das H<strong>aus</strong> bewohnbar <strong>und</strong> nicht<br />

extrem verwüstet oder demoliert worden. Erstaunlich war, dass sogar die Mehrzahl der Fensterscheiben<br />

g<strong>an</strong>z war, das war eine Ausnahme. Wie üblich versuchten alle in einem Raum unterzukommen,<br />

machten d<strong>an</strong>n aber noch einen zweiten Raum bewohnbar. Ich muss sicher nicht besonders<br />

hervorheben, dass die alte Mutter L<strong>an</strong>gh<strong>an</strong>s sich gleich der Küche bemächtigte. Aber dar<strong>an</strong><br />

hatten wir uns gewöhnt <strong>und</strong> bek<strong>an</strong>ntlich „verderben viele Köche den Brei“. Einer musste ja die Regie<br />

übernehmen. Ihre erste größere Aktion am Folgetag war das nun endgültige Fertigbacken der<br />

Brote. Die verunglückten Brotteige hatten zwar erheblich gelitten, aber waren gerettet <strong>und</strong> in dieser<br />

Zeit des Überlebens war alles essbar.<br />

Die Gr<strong>und</strong>lage unserer Versorgung schien auch hier wieder gesichert. Der Keller war voller Kartoffeln.<br />

Getreide bzw. Mehl waren auch reichlich vorh<strong>an</strong>den. Fleisch war aber kaum noch zu finden.<br />

Zerschossene Flüchtlingswagen zum „Plündern“ waren hier abseits der Straßen eine Ausnahme.<br />

Noch am gleichen Tag unserer Ankunft machten wir uns mit dem Umfeld vertraut <strong>und</strong> das war<br />

auch dieses Mal wieder ernüchternd. M<strong>an</strong> musste immer davon <strong>aus</strong>gehen, dass es Tote auf den<br />

Gr<strong>und</strong>stücken gab, so auch hier. Am Gartenr<strong>an</strong>d unter hohen Fichten lag ein toter deutscher Soldat.<br />

Es war bereits der fortgeschrittene Monat März <strong>und</strong> nach der l<strong>an</strong>gen Liegezeit bei Wind <strong>und</strong><br />

Regen sind Tote nicht mehr besonders <strong>an</strong>sehnlich.<br />

An der Gr<strong>und</strong>stückszufahrt war ein defekter P<strong>an</strong>jewagen, ihm fehlte ein Rad. Mit einem Strick <strong>an</strong><br />

den Wagen <strong>an</strong>geb<strong>und</strong>en lag ein alter toter M<strong>an</strong>n. M<strong>an</strong> hatte ihn zu Tode geschleift. Seine Sachen<br />

waren bis auf den nackten Körper in Schleifrichtung zerfetzt. In diesem Zust<strong>an</strong>d war der alte M<strong>an</strong>n<br />

kaum zu identifizieren. Eine orts<strong>an</strong>sässige Frau meinte allerdings mit einigem Zweifel, dass es jem<strong>an</strong>d<br />

<strong>aus</strong> dem Dorf Hoofe war. Wie muss der Gesp<strong>an</strong>nführer die Pferde wohl <strong>an</strong>getrieben haben,<br />

wenn dabei sogar ein Wagenrad bricht. Gr<strong>aus</strong>am!<br />

Und d<strong>an</strong>n lag im Garten unter einem großen Birnbaum noch ein totes Pferd. Keine h<strong>und</strong>ert Meter<br />

vom Gehöft entfernt war auf einer Anhöhe ein russischer Soldat beerdigt. Wir erk<strong>an</strong>nten das <strong>an</strong> einer<br />

im Erdreich aufgestellten verjüngten Säule. Es gab keine Inschrift oder Erkennungsnummer.<br />

Eigentlich hatte m<strong>an</strong> immer einen Sowjetstern oben aufgesetzt. Der fehlte. Wenig entfernt von diesem<br />

Grab steckte ein Pferdegeschirr halb in der Erde. Es war etwas Ungewöhnliches <strong>und</strong> m<strong>an</strong> sah<br />

vorerst keinen Zusammenh<strong>an</strong>g mit dem Grab bzw. dem gefallenen russischen Soldaten. Den haben<br />

wir zu einem späteren Zeitpunkt erfahren können.<br />

Als Erstes wollten wie die beiden Toten beerdigen. Unsere Leute hatten einen besonders gut gemeinten<br />

Platz dafür <strong>aus</strong>gesucht. Im Garten, direkt unter dem Birnbaum sollte das sein. Vielleicht<br />

sollten d<strong>an</strong>n die Birnen besonders gut schmecken? Es wurde ein Doppelgrab. Ein Kreuz <strong>aus</strong> Birke<br />

wurde <strong>an</strong>gefertigt <strong>und</strong> wie üblich wurde ein Stahlhelm aufgesetzt. Das Pferd wurde gleich d<strong>an</strong>eben<br />

der Erde überlassen. Eine Möglichkeit, es wo<strong>an</strong>ders hin zu tr<strong>an</strong>sportieren, gab es nicht. Der Birnbaum<br />

hat sich noch einmal über die Düngergabe gefreut, aber später, beim Essen der Birnen, hatte<br />

m<strong>an</strong> immer ein eigenartiges Gefühl. Bei dieser Aktion versuchte ich mich wieder zu drücken, es<br />

gab letztlich genügend Erwachsene.<br />

Zum Alltag Ende März gehörte immer noch, dass russische Soldaten, meist in kleinen Gruppen,<br />

auftauchten <strong>und</strong> nach Beute suchten. Dazu kam auch das Vergewaltigen der Frauen, aber nicht<br />

mehr in dieser Häufigkeit <strong>und</strong> Brutalität. An ein Auskleiden nachts war immer noch nicht zu denken,<br />

denn nach wie vor war das Verhalten der russischen Soldaten unberechenbar <strong>und</strong> der Hass<br />

uns Deutschen gegenüber saß zu tief. Das Waschen, gr<strong>und</strong>sätzlich nur früh, war über Wochen <strong>und</strong><br />

Monate eigentlich nur ein symbolischer Akt. Es kam auch gar nicht das Gefühl auf, dass m<strong>an</strong> un<strong>an</strong>genehm<br />

riechen könnte. Zähneputzen existierte noch nicht einmal als Ged<strong>an</strong>ke, womit auch<br />

putzen!<br />

Geändert hatte sich in der Zwischenzeit, dass wir uns jetzt <strong>aus</strong> dem H<strong>aus</strong> wagten <strong>und</strong> auf den<br />

Nachbargr<strong>und</strong>stücken nach etwas Essbarem suchten. Das gel<strong>an</strong>g auch, in den Kellern war immer<br />

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