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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

ein, dass ich <strong>aus</strong> der Tr<strong>an</strong>sportkolonne her<strong>aus</strong>gelöst wurde <strong>und</strong> als „Schlosserhelfer“ mit einem<br />

„Hilfsschlosser“ ein neues Werkstattgesp<strong>an</strong>n bildete.<br />

Das klingt wie ein Scherz, zwei Ungelernte, ich noch nicht 17 Jahre alt, bilden ein Arbeitsgesp<strong>an</strong>n.<br />

Wir verst<strong>an</strong>den uns gut. Otto Kroll stammte <strong>aus</strong> D<strong>an</strong>zig, er war Mitte 30 <strong>und</strong> ein richtiger Arbeitstyp.<br />

Wir stellten bald fest, dass ich von meinen Anlagen her der bessere H<strong>an</strong>dwerker war <strong>und</strong> damit<br />

übernahm ich in unserem kleinen Gesp<strong>an</strong>n die Führungsrolle. Er wartete nur auf das „Wie <strong>und</strong><br />

Was“ <strong>und</strong> konnte zupacken. Unser Arbeitsplatz war bei den gest<strong>an</strong>denen, erfahrenen Schlossern.<br />

Aber typisch für diese Zeit war, dass uns keiner von denen einmal einen h<strong>an</strong>dwerklichen Hinweis<br />

gab. Sie beobachteten uns lieber unauffällig <strong>und</strong> warteten darauf, dass wir einmal „Mist“ bauten.<br />

Die Schadenfreude wäre uns gewiss gewesen.<br />

In unserem Werkstattgebäude arbeiteten viele ältere H<strong>an</strong>dwerker, die sich bereits im Rentenalter<br />

bef<strong>an</strong>den <strong>und</strong> als „Zugew<strong>an</strong>derte“ <strong>und</strong> Mittellose auf Geld <strong>an</strong>gewiesen waren. Sie arbeiteten in<br />

diesen ersten Jahren nach dem Krieg fast <strong>aus</strong>schließlich privat für ihre Meister. Sie fertigten Dinge<br />

die es noch nicht zu kaufen gab. So z. B. Ölpressen, Messer, Äxte <strong>und</strong> es war sogar ein Fleischwolf<br />

dabei. Die Ergebnisse waren meist besser <strong>an</strong>zuschauen als industriell gefertigte Gegenstände.<br />

Nun ein letztes Beispiel der damaligen H<strong>an</strong>dwerkergeneration: In unserem Gebäude, wegen der<br />

vielen älteren H<strong>an</strong>dwerker umg<strong>an</strong>gssprachlich „Altersheim“ gen<strong>an</strong>nt, gab es auch einen Messerschmied,<br />

der bereits das 70. Lebensjahr überschritten hatte, aber des Geldes wegen noch arbeiten<br />

musste. Er hatte einen Großteil seines Lebens in Mexiko verbracht, muss bei Kriegs<strong>an</strong>bruch gerade<br />

in Deutschl<strong>an</strong>d gewesen sein <strong>und</strong> bekam keine Altersversorgung. Er fertigte nur Messer <strong>an</strong>. Es<br />

waren alle möglichen Vari<strong>an</strong>ten, auch Taschenmesser, dabei. Alle Messer besaßen eine solch hohe<br />

Qualität, dass m<strong>an</strong> die H<strong>an</strong>dfertigung fast <strong>an</strong>gezweifelt hätte. Da auch wir uns Messer für den<br />

Eigenbedarf herstellten aber wiederholt Schwierigkeiten mit dem Härten des Stahls hatten, wollte<br />

ich einmal miterleben, wie der alte Herr richtig härtet. Mit einem Öltopf <strong>und</strong> einer Messerklinge <strong>an</strong><br />

einem Draht ging er in die betriebliche Schmiede. Ich schlich hinterher. Er tat nicht dergleichen <strong>und</strong><br />

wartete, dass ich mich entfernte. Das wiederum tat ich nicht <strong>und</strong> nach längerer Wartezeit ging er<br />

zurück <strong>an</strong> seinen Arbeitsplatz. Lieber nahm er sein Wissen mit ins Grab, als dass er es <strong>an</strong>deren<br />

übermittelte.<br />

Übrigens ist erwähnenswert, dass ich jetzt als Schlosserhelfer besser entlohnt würde. Es waren<br />

0,50 RM <strong>und</strong> bei jetzt 45 Wochenst<strong>und</strong>en kam ich auf monatlich etwa 80 RM. Das war schon beträchtlich<br />

mehr. Ein kleiner Vergleich zu heute: Der Facharbeiterst<strong>und</strong>enlohn betrug damals 0,87<br />

RM. Heute ist es zum Teil das Zw<strong>an</strong>zigfache.<br />

Auf den Inhalt meiner Arbeit als Schlosser möchte ich nicht weiter eingehen. Ich möchte jedoch <strong>an</strong><br />

einem Beispiel <strong>aus</strong> dieser Arbeitswelt sichtbar machen, wie m<strong>an</strong> zu dieser Zeit nach Möglichkeiten<br />

suchte, um Kriegsversehrten ein wenig entgegenzukommen. Viele hatten als Soldat ein Bein verloren<br />

<strong>und</strong> die Prothesen von damals sind nicht zu vergleichen mit heutigen. Der Berufsverkehr hatte<br />

sich bald stabilisiert, die zwei Bahnhöfe lagen <strong>an</strong> verschiedenen Orten jeweils zwei bis drei Kilometer<br />

vom Werk entfernt. Die Masse der Werksarbeiter ging zu Fuß. Zwei Mal eine solche Strecke am<br />

Tag zu laufen war für diese Versehrten g<strong>an</strong>z sicher eine Strapaze. Die Lösung war, dass auf Elektrokarren,<br />

dem Universaltr<strong>an</strong>sportmittel in den damaligen Betrieben, statt der Seitenpl<strong>an</strong>ken Bänke<br />

aufgesetzt wurden, auf denen die Versehrten von <strong>und</strong> zu den Zügen befördert wurden. Durch den<br />

Fußteil der Bänke hatten die Elektrokarren eine unheimlich breite Ausladung. Das war für den jeweiligen<br />

Fahrer ungewohnt <strong>und</strong> allzu häufig fuhr er mit voller Besetzung gegen Straßenvorsprünge<br />

<strong>und</strong> auch Gebäudek<strong>an</strong>ten. Seinen „Fahrgästen“ ist selten etwas passiert, aber die Bänke waren<br />

stark demoliert <strong>und</strong> mussten noch am gleichen Tag inst<strong>an</strong>d gesetzt werden. Das war so eine ständig<br />

wiederkehrende Arbeit unseres Duos.<br />

Es war bereits 1948. Obwohl mir meine Schlosserarbeiten Spaß machten, war ich letztlich weiterhin<br />

ein ungelernter Hilfsarbeiter ohne berufliche Perspektive. Ich bewarb mich Ende 1948 um eine<br />

richtige Lehrstelle im Werk. Die Zusage war abhängig von einer theoretischen <strong>und</strong> praktischen<br />

Eignungsprüfung. Und bei der theoretischen Prüfung habe ich das erste Mal richtig begriffen, dass<br />

m<strong>an</strong> doch nicht für den Lehrer, sondern für sich selbst lernt.<br />

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