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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Die beauftragten Jungs hatten festgestellt, dass sie mit Sicherheit die <strong>an</strong>gesprochenen Fehler in<br />

ihren Diktaten hatten. Sie gingen zu einem der Jungs in dessen Wohnung, korrigierten ihre Hefte<br />

<strong>und</strong> meinten, das merkt die Lehrerin nicht. Aber es fiel auf <strong>und</strong> kam zum großen Krach. Es waren<br />

Kinder von bek<strong>an</strong>nten Stadtpersönlichkeiten <strong>und</strong> so einen Makel konnte es ja nicht geben, allerdings<br />

verschweigen konnte das unsere Lehrerin auch nicht. Letztlich sprach es sich doch herum.<br />

In einer Musikst<strong>und</strong>e ereignete sich einmal Folgendes: Wir hatten eine sehr nette jüngere Musiklehrerin,<br />

die auch oft bei der Auswahl von Musikstücken auf Wünsche von uns einging. Sie spielte<br />

Klavier, so dass der Unterricht immer interess<strong>an</strong>t war. Nur Noten schreiben mochten wir nicht besonders<br />

gern. Mitten in einer St<strong>und</strong>e ging die Tür auf. Ein junges Mädchen, gut gekleidet, so etwa<br />

16 Jahre alt, trat ein. Sie kniete nieder, senkte den Kopf, bekreuzigte sich <strong>und</strong> verharrte wortlos.<br />

Mäuschenstill warteten wir, was nun passiert. Unsere Lehrerin sprach sie <strong>an</strong>. Sie verst<strong>an</strong>d vermutlich<br />

kein Wort <strong>und</strong> könnte eine Litauerin gewesen ein. Von uns sprach keiner litauisch, obwohl wir<br />

unmittelbar <strong>an</strong> der Grenze wohnten. Wir meinten letztendlich, dass das Mädchen die Klaviermusik<br />

als eine Art Kirchenmusik von der Straße her wahrgenommen hat <strong>und</strong> wohl meinte, vor einem<br />

Gemeindeh<strong>aus</strong> zu stehen. Sie verließ d<strong>an</strong>n genau so unauffällig <strong>und</strong> wortlos den Klassenraum <strong>und</strong><br />

die Schule <strong>und</strong> ging in Richtung Stadt bzw. Grenze.<br />

Für uns war sie mit Sicherheit eine Spionin. Der nationalsozialistische Erziehungseinfluss wirkte<br />

bereits so, dass wir bei allen Fremden, die sich irgendwie <strong>an</strong>ders verhielten, einen Spion sahen<br />

<strong>und</strong> sogar Kontakt mit der Stadtkomm<strong>an</strong>d<strong>an</strong>tur aufnahmen. In diesem Fall endete das so, dass wir<br />

im Zusammenh<strong>an</strong>g mit dem unmittelbaren Schulschluss das Mädchen in mäßigem Abst<strong>an</strong>d verfolgten.<br />

Sie ging tatsächlich zur Grenze <strong>und</strong> nach Litauen.<br />

Nun eine Anmerkung zum Musikunterricht bzw. zum un<strong>an</strong>genehmen Notenschreiben. Eines<br />

Nachmittags hörten wir Feueralarm. Das waren l<strong>an</strong>ge sich wiederholende Töne auf einem Horn.<br />

Sirenen durften nur noch bei Fliegeralarm eingesetzt werden. Wir entdeckten auch bald den aufsteigenden<br />

Rauch. Nichts wie hin! Die Feuerwehr war schon aktiv, es gab aber keine Motorspritze.<br />

Vier Feuerwehrmänner quälten sich <strong>an</strong> einer H<strong>an</strong>dhebelpumpe, später sah ich diese Technik nur<br />

noch in Museen. Es war ein Dachstuhlbr<strong>an</strong>d im H<strong>aus</strong>, in dem unsere Musiklehrerin wohnte. Unser<br />

sehnlichster Wunsch war, dass doch unsere Notenhefte verbrennen möchten. In kindlicher Denkweise<br />

meinten wir, dass d<strong>an</strong>n das Notenschreiben erledigt sei. Wir sollten uns aber gehörig irren.<br />

Was macht m<strong>an</strong> so in den Schulp<strong>aus</strong>en. M<strong>an</strong> möchte sich nach dem Ruhigsitzen doch entsp<strong>an</strong>nen<br />

bzw. ein wenig <strong>aus</strong>toben. Eine Zeitl<strong>an</strong>g war Reiterkampf <strong>an</strong>gesagt. Ich war der kleinste in der<br />

Klasse, hatte aber für meine Größe überdurchschnittliche Kraft. Natürlich konnte ich nur Reiter<br />

sein. Mein Pferd war groß, kräftig <strong>und</strong> ein Jahr älter. Der Mitschüler, Kurt Dombrowski, hatte schon<br />

seinen Platz in unserem Klassenraum eingesessen <strong>und</strong> hat uns „Neue“ begrüßt. Er war der Sohn<br />

eines bek<strong>an</strong>nten Fuhrunternehmers der Stadt. Sitzenbleiben war für ihn kein Makel. Wenn wir uns<br />

in der großen P<strong>aus</strong>e zum Reiterkampf formierten, d<strong>an</strong>n sah das bei mir <strong>aus</strong> wie „Jockey auf Brauereipferd“.<br />

Mein Pferd Kurt brachte bereits in diesem Alter fast 2 Zentner auf die Waage <strong>und</strong> diese<br />

Masse war nicht umzuhauen. Er hielt mich auf seinem Rücken so fest, dass mir eher ein Ohrläppchen<br />

fehlte, als dass mich jem<strong>an</strong>d runter riss. Erstaunlich war, dass unsere Lehrer bzw. die Hofaufsicht<br />

das tolerierte. Vielleicht hatten sie selbst ihre Freude dar<strong>an</strong> <strong>und</strong> betrachteten das als eine<br />

Art „Wehrertüchtigung“, oder m<strong>an</strong> ließ uns einfach <strong>aus</strong>toben.<br />

Für uns Schüler gab es in den letzten Kriegsjahren besondere Pflichten. Wir mussten u. a. fast täglich<br />

irgendwelche Heilkräuter, meist getrocknet, in die Schule mitbringen. Dadurch, dass wir auch<br />

vieles für den Eigenbedarf sammelten, k<strong>an</strong>nten wir die meisten Kräuter bzw. Pfl<strong>an</strong>zen <strong>und</strong> wildwachsenden<br />

Teesorten. Was so gesammelt wurde, war aber häufig abhängig von Blüte- <strong>und</strong> Reifezeiten.<br />

Einige Beispiele für das was gesammelt wurde, heutigen Kindern <strong>und</strong> der jungen Generation<br />

allgemein aber kaum bek<strong>an</strong>nt ist: Kamille, Hirtentäschel, Gänsefingerkraut, Frauenm<strong>an</strong>tel,<br />

Huflattich, Brennnessel, Spitzwegerich u.v.m. Nur weiße Taubnesseln wurden nicht in die Schule<br />

mitgenommen. Die haben wir zur Apotheke gebracht. Sie wurden <strong>an</strong>gemessen gut bezahlt.<br />

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