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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Küche aufgehängt. Für uns war das eigentlich ein Versteck, denn die Russen oder später auch die<br />

Polen hätten dort nicht nach Beute gesucht. Mutter verfolgte die Absicht uns Kindern, streng rationiert,<br />

immer ein kleines Stückchen zukommen zu lassen. Ohne Hemmungen <strong>und</strong> in unserer Anwesenheit<br />

nahm Opa Thieler eines Tages ein Messer, ging zum Schinken, schnitt sich ein Stück ab<br />

mit den Worten: „Da habe ich ja etwas zum Zusetzen!“ Er war es gewohnt, in der Familie <strong>an</strong> erster<br />

Stelle zu stehen. Sein Verhalten war sicher mehr als eine Frechheit.<br />

Das zweite Beispiel, war ein richtiger Selbstschuss. In einem Kochgeschirr hatte Mutter vor den<br />

Russen Schmalz versteckt. Mutter ging sehr sparsam damit um. Es wurde immer nur eine kleine<br />

Messerspitze davon in die Suppe gegeben. Letztlich ging der Verbrauch gegen Null, da es immer<br />

unwahrscheinlicher wurde, neues Fett zu finden. Eines Tages konnte sich Opa Thieler wieder nicht<br />

beherrschen. Er ging <strong>an</strong>s Kochgeschirr <strong>und</strong> griff mit seiner zitternden H<strong>an</strong>d hinein. Eine H<strong>an</strong>dvoll<br />

Schmalz wurde gierig von ihm verschlungen. Das G<strong>an</strong>ze hatte eine extrem „durchschlagende Wirkung“.<br />

Er hat sich regelrecht „beschissen“, zumal er mit seinem Stuhlg<strong>an</strong>g sowieso seine Schwierigkeiten<br />

hatte. Dass Mutter d<strong>an</strong>n alles <strong>aus</strong>waschen durfte, war wie bisher selbstverständlich. Zu<br />

Beginn hatten wir den Ursprung seiner misslichen Lage gar nicht zuordnen können. Aber d<strong>an</strong>n sah<br />

Mutter die Fingerspuren <strong>und</strong> das h<strong>an</strong>dgroße Loch im Schmalz.<br />

Den Begriff Stuhlg<strong>an</strong>g konnte m<strong>an</strong> bei ihm wörtliche nehmen. Eigentlich erledigt m<strong>an</strong> sein „großes<br />

Geschäft“ am Tage <strong>und</strong> auf dem Plumpsklo. M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n das natürlich auch in die Nacht <strong>und</strong> ins<br />

Zimmer verlegen. Das ist bequemer, kein zusätzlicher Weg <strong>und</strong> kein kaltes Plumpsklo. Ein Eimer<br />

im Zimmer tut es auch. Sol<strong>an</strong>ge wir noch alle in einem Zimmer beisammen waren, wurde das mit<br />

einem Knurren hingenommen. Aber rücksichtsvoll stellte er d<strong>an</strong>n immer den Eimer in einen<br />

Schr<strong>an</strong>k <strong>und</strong> dämpfte den Geruch damit etwas ab. Als die L<strong>an</strong>gh<strong>an</strong>s´sche Sippe d<strong>an</strong>n <strong>aus</strong>gezogen<br />

war <strong>und</strong> wir in das frei gewordene Zimmer einzogen, verbesserten sich auch für ihn die Bedingungen<br />

für das nächtliche Geschäft. Er f<strong>an</strong>d eine noch bessere Lösung: den wörtlich zu nehmenden<br />

Stuhlg<strong>an</strong>g. Von einem Stuhl entfernte er die Sitzplatte, stellte den Kackeimer darunter <strong>und</strong> die Bequemlichkeit<br />

erhielt eine völlig neue Qualität.<br />

Für seine äußere Schönheit war ich zuständig. Opa Thieler trug einen mäßig großen Schnurrbart<br />

<strong>und</strong> einen Spitzbart. Mit einer kleinen Schere, wie sie die Soldaten in ihrem kleinen Nähzeugpäckchen<br />

hatten, hielt ich den Bart in Form. Das betraf auch seine dünnen, weißgrauen Haare. In der<br />

ersten Zeit hatten wir keinen Kamm. Da musste Mutter mit ihrem halbr<strong>und</strong>en Haarsteckkamm <strong>aus</strong>helfen.<br />

Später f<strong>an</strong>den wir d<strong>an</strong>n Kammstücke. Als Spiegel hatten wir nur ein Stück Spiegelglas von<br />

einem Scheinwerfer. Er verzerrte alles, aber m<strong>an</strong> konnte sich sehen. Für seine Finger- <strong>und</strong> Zehennägel<br />

war ich auch zuständig. Mit den Fußnägeln hatte ich ein echtes Problem. Der Nagel einer<br />

großen Zehe sah <strong>aus</strong> wie der Huf eines Zwergpferdes. Opa Thieler meinte, dass ihm einmal ein<br />

Pferd draufgetreten hätte <strong>und</strong> dabei wurde das Nagelbett beschädigt. Mit einer übergroßen Feile,<br />

es war mein Universalwerkzeug, konnte ich den Nagel aber in Form halten. Ich hatte schon erwähnt,<br />

dass Opa Thieler kr<strong>an</strong>kheitsbedingt stark zitterte, daher konnte er solche Tätigkeiten selbst<br />

nicht <strong>aus</strong>üben. Auch beim Essen mit dem Löffel gab es Schwierigkeiten, <strong>und</strong> wenn er m<strong>an</strong>chmal<br />

gierig aß, blieb kaum etwas im Löffel drin. Wenn er kraftvoll ein Werkzeug oder Ähnliches mit den<br />

Händen umklammern <strong>und</strong> führen konnte, war die Koordination im Wesentlichen vorh<strong>an</strong>den. Aber<br />

noch einmal zu seinem Verhalten in unserer Mitte. Er war meist mit dem Hacken von Holz beschäftigt,<br />

welches wir in entsprechende Längen gesägt hatten. Damit begründete er, dass er sich sein<br />

Essen <strong>und</strong> das gesamte Umsorgen redlich verdient hätte <strong>und</strong> er nicht unbedingt d<strong>an</strong>kbar sein<br />

müsse.<br />

Obwohl ich bereits kurz erwähnte, wie Opa Thieler seine Angehörigen verloren hatte, will ich zu<br />

dieser Problematik noch einmal zurückkommen. Die Trennung von Familien bzw. Kindern von ihren<br />

Eltern geschah sehr häufig, das hat m<strong>an</strong> nach dem Krieg erfahren. Als der Vormarsch der Roten<br />

Armee nach Beginn der Großoffensive im J<strong>an</strong>uar 1945 immer schneller verlief <strong>und</strong> <strong>Ostpreußen</strong><br />

bereits Ende J<strong>an</strong>uar 1945 vom Reich abgeschnitten war, war auch das zügige Weiterkommen der<br />

Trecks kaum noch möglich. Die Wehrmacht versuchte zwar noch, die Wagenkolonnen zu dirigieren,<br />

musste aber auch die Straßen für die Wehrmacht freihalten. Durch das unberechenbare Vordringen<br />

der Sowjetarmee fehlten oft auch Informationen über noch freie Straßen. Da Ende J<strong>an</strong>uar<br />

bzw. Anf<strong>an</strong>g Februar noch tiefer Frost herrschte, setzten sich nur gehschwache Menschen <strong>und</strong> geschwächte<br />

Kinder auf die Wagen. Alle <strong>an</strong>deren liefen nebenher, um sich vor dem Erfrieren von<br />

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