05.01.2013 Aufrufe

Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

eingesetzt hatte. Unterwegs verstarben viele ältere Menschen. In etwa der Mitte des relativ l<strong>an</strong>gen<br />

Zuges war ein Waggon <strong>aus</strong> Blech. Dort hinein wurden die Toten gelegt.<br />

Unmittelbar vor der Grenze traten die Sowjets wieder in Aktion. Wir wurden aufgefordert <strong>aus</strong>zusteigen<br />

<strong>und</strong> mussten uns waggonweise in Dreierreihen aufstellen. Das Gepäck blieb in den Waggons,<br />

ebenso Kr<strong>an</strong>ke <strong>und</strong> Gehunfähige. D<strong>an</strong>n wurden die Waggons verschlossen <strong>und</strong> es beg<strong>an</strong>n<br />

die Anwesenheitskontrolle nach Listen durch sowjetische Offiziere. Jetzt erfolgte der Vergleich mit<br />

den im Waggon Verbliebenen. Zum Schluss kamen die Toten im Sonderwaggon dr<strong>an</strong>. Insgesamt<br />

war das eine sehr l<strong>an</strong>ge Prozedur <strong>und</strong> alles lief sehr gründlich ab, fast preußisch! Nach der Freigabe<br />

durch die Sowjets setzte sich der Zug in Richtung Grenze in Bewegung. Als wir über die Neiße<br />

fuhren, stimmten alle das Lied „Nun d<strong>an</strong>ket alle Gott, mit Herzen, M<strong>und</strong> <strong>und</strong> Händen …“ <strong>an</strong>. Wir<br />

fühlten uns befreit <strong>und</strong> waren glücklich wieder unter Deutschen zu sein. Der Ged<strong>an</strong>ke vertrieben<br />

worden zu sein kam zu dieser Zeit nicht auf. Wir hatten zu viel erlebt oder besser gesagt, waren<br />

froh, überlebt zu haben!<br />

Unser Zug endete in Forst/L<strong>aus</strong>itz. Es gab einen offiziellen Empf<strong>an</strong>g im Bahnhofsbereich mit einer<br />

Rede eines kriegsversehrten jüngeren M<strong>an</strong>nes, der als Soldat einen Arm verloren hatte. Seine Rede<br />

endete d<strong>an</strong>n mit den Worten: „Einst ruft euch die Heimat wieder!“ Fast eine Ironie, vielleicht<br />

sollte es auch nur Zweckoptimismus sein. Ab jetzt lief alles Weitere zügig <strong>und</strong> org<strong>an</strong>isiert ab. Nach<br />

kurzer Verpflegung ging es direkt ins Quar<strong>an</strong>tänelager Torgau <strong>an</strong> der Elbe. Der Tr<strong>an</strong>sport wurde<br />

aber geteilt. Für den <strong>an</strong>deren Teil hieß das, sie kamen in die „Zietenkaserne“. Wir konnten damit<br />

nichts <strong>an</strong>f<strong>an</strong>gen <strong>und</strong> auch keinem Ort zuordnen. Unsere Unterbringung war das „Brückenkopflager“.<br />

Eine alte Festung, direkt <strong>an</strong> der Elbe gelegen <strong>und</strong> <strong>an</strong> einer Brücke, die uns mit der Stadt verb<strong>an</strong>d.<br />

Die Brücke war zwar gesprengt, aber nicht in der Elbe versunken. Sie ließ sich <strong>an</strong> der gesprengten<br />

Stelle so überbrücken, dass sie sogar wieder mit Einschränkung befahrbar war. Uns gegenüber<br />

auf der <strong>an</strong>deren Seite der Elbe st<strong>an</strong>d das Schloss Hardenfels, die frühere Residenz der<br />

sächsischen Kurfürsten.<br />

Etwas zum Brückenkopflager: Während des Dritten Reiches war es das bek<strong>an</strong>nteste Militärgefängnis,<br />

was wir aber damals nicht wussten. Aus unserer Betrachtung war es ein Kasernenkomplex<br />

mit dem historischen Festungsbereich <strong>und</strong> noch vielen Baracken. In den Nebengelassen gab<br />

es auch viele Reliefs mit „heroischen Kämpfern“ <strong>und</strong> ähnlichen plastischen Darstellungen. In diesem<br />

Lager waren bis Kriegsende vorwiegend Wehrdienstverweigerer <strong>und</strong> Deserteure der deutschen<br />

Wehrmacht untergebracht. Darunter viele, die deswegen zum Tode verurteilt worden waren.<br />

Es gab aber nur wenige Vollstreckungen. Da viele hohe Wehrmachtsoffiziere gegen die Vollstreckung<br />

der Todesurteile waren, rekrutierte m<strong>an</strong> diese Wehrmachts<strong>an</strong>gehörigen für das sogen<strong>an</strong>nte<br />

Strafbataillon. Mir war die Bezeichnung Strafbataillon „99“ bek<strong>an</strong>nt. Das war eine militärische Einheit,<br />

die <strong>an</strong> der Ostfront überall dort eingesetzt wurde, wo m<strong>an</strong> von der fast vollständigen Vernichtung<br />

<strong>aus</strong>gehen musste. Damit starben auch sie den „Heldentod“! Heute würde ich sagen: An den<br />

Wänden unserer Unterkunft klebte Blut! Zum Glück wussten wir nichts von alledem <strong>und</strong> hätten entsprechend<br />

unserer nazistischen Erziehung das sogar für richtig bef<strong>und</strong>en.<br />

Der Tag der Ankunft in Torgau war Heiligabend 1946. Diesen Tag werde ich wohl in meinem Leben<br />

nie vergessen. Allerdings war es uns nach einem Heiligabend ohnehin nicht zumute. Opa<br />

Thieler <strong>und</strong> die alte Frau Steinert blieben weiterhin in unserer Obhut <strong>und</strong> wir ließen uns gemeinsam<br />

in einem Zimmer unterbringen. Die Räume waren <strong>aus</strong>gerüstet mit Doppelstockbetten, Tisch<br />

<strong>und</strong> Stühlen. Jeder Raum war mit einem kleinen K<strong>an</strong>onenofen beheizbar. Feuerungsmaterial bzw.<br />

Briketts gab es <strong>aus</strong>reichend, so dass unser relativ kleiner Raum oft überhitzt war. Es gab eine ärztliche<br />

Untersuchung <strong>und</strong> die „org<strong>an</strong>isierte Entl<strong>aus</strong>ung“. Dafür musste m<strong>an</strong> aber nicht unbedingt<br />

Läuse haben. Diese Entl<strong>aus</strong>ung lief wie folgt ab: Wir mussten uns splitternackt <strong>aus</strong>ziehen, getrennt<br />

nach Männlein <strong>und</strong> Weiblein <strong>und</strong> die Kleidung durchlief komplett eine Hitzekammer, die schätzungsweise<br />

mit reichlich 100 °C beheizt war. Leicht entflammbare Artikel wie Kämme u. ä. mussten<br />

wir vorher <strong>aus</strong> den Taschen nehmen. Duschen gab es nicht. Wir warteten lediglich, bis die Sachen<br />

wieder bei uns <strong>an</strong>kamen.<br />

Während des Lageraufenthalts war die Verpflegung sehr knapp, in dieser unmittelbaren Nachkriegszeit<br />

nicht <strong>an</strong>ders zu erwarten. Mittags bekamen wir die immer gleiche Gemüsesuppe. Eigentlich<br />

mehr Wasser als Möhren, Kartoffeln <strong>und</strong> <strong>an</strong>dere Inhaltsstoffe. Insgesamt gab es in dieser Zeit<br />

107

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!