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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

<strong>und</strong> vom Regen durchnässt. Irgendwer gab uns zwei Säcke <strong>und</strong> lieh uns einen H<strong>an</strong>dwagen, so<br />

dass wir das Zeug nach H<strong>aus</strong>e tr<strong>an</strong>sportieren konnten. Feuer machen konnte m<strong>an</strong> damit nicht,<br />

diese Masse fiel gleich durchs Rost bzw. konnte m<strong>an</strong> gar nicht <strong>an</strong>zünden.<br />

Ich musste mir eine Lösung <strong>aus</strong>denken, um das Durchfallen durch den Rost zu verhindern. Zufällig<br />

f<strong>an</strong>d ich eine leere Konservenbüchse, <strong>aus</strong> der ich d<strong>an</strong>n ein Stück Blech her<strong>aus</strong>arbeitete <strong>und</strong> auf<br />

den Rost legte. Vorher schlug ich mit einem Nagel Löcher hinein, damit die Kohle überhaupt Luft<br />

bekam. Zum Glück hatte ich in meinem H<strong>an</strong>dgepäck meinen „Schusterhammer“ <strong>und</strong> eine kleine<br />

Kneifz<strong>an</strong>ge mitgebracht, es war für l<strong>an</strong>ge Zeit mein Basiswerkzeug.<br />

Trotz Blechbeilage auf dem Rost war es immer wieder ein Problem, Feuer <strong>an</strong>zumachen. Ich kaufte<br />

in der örtlichen Drogerie ein kleines Fläschchen gereinigtes Benzin, welches es zu dieser Zeit tatsächlich<br />

zum Füllen der Feuerzeuge gab. Meine Kohle, bereits im Herd, wurde damit ein wenig getränkt<br />

<strong>und</strong> nun sollte es kein Problem sein, das Feuer <strong>an</strong>zukriegen. Streichholz dr<strong>an</strong> <strong>und</strong> es müsste<br />

klappen. Ich war kein guter „Feuerwerker“. Durch das vergaste Benzin gab es einen explosionsartigen<br />

Flammenrückschlag in den Raum <strong>und</strong> mir direkt ins Gesicht. Zum Glück hatte ich wegen der<br />

Kälte meine Schirmmütze auf, die mein Gesicht ein wenig geschützt hat. Aber: hervorstehende<br />

Haare weg, Wimpern weg, Augenbrauen weg <strong>und</strong> ein verändertes Aussehen. So was macht m<strong>an</strong><br />

nur einmal!<br />

Nun zu unser Versorgung: Wir erhielten Lebensmittelkarten der niedrigsten Versorgungsstufe. Was<br />

m<strong>an</strong> damit bekam, war zum Leben zu wenig <strong>und</strong> zum Sterben zu viel. Hunger tut weh! M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n<br />

es wörtlich nehmen. Wir hatten kein Sättigungsgefühl mehr, da der körperliche Kalorienbedarf höher<br />

war als die zugeführte Menge. Die Einheimischen in so einem kleinen Dorf hatten immer noch<br />

Möglichkeiten, sich zusätzlich zu versorgen, z. T. hatten sie Kleinvieh wie Hühner, Enten, Gänse<br />

oder K<strong>an</strong>inchen. Das traf zumindest für den Großteil der Bewohner von Kleinlauchstädt zu. Es war<br />

früher ein Dorf <strong>und</strong> einen Garten hatten die meisten. Auch unsere Vermieter gehörten zu diesen<br />

damals Privilegierten. Wir hätten uns sicher über ein Ei gefreut oder ein paar Quadratmeter Acker<br />

im Garten.<br />

Der H<strong>aus</strong>herr war ein g<strong>an</strong>z liebevoller Mensch, der im Krieg ein Bein verloren hatte <strong>und</strong> <strong>aus</strong> Westpreußen<br />

stammte. Die Frau war geizig <strong>und</strong> hatte das Sagen. Mitgefühl war ihr fremd. Der kleine<br />

Werner war so dünn <strong>und</strong> schwach, dass Mutter einmal zu Bek<strong>an</strong>nten sagte: „Der wird wohl den<br />

Kuckuck nicht mehr rufen hören!“ Werner hatte das gehört <strong>und</strong> k<strong>an</strong>n es bis heute nicht vergessen.<br />

Mutter hatte ihn wohl schon aufgegeben. Sie tat aber auch kaum etwas, um unsere Versorgung<br />

etwas aufzubessern. Sie schickte uns betteln <strong>und</strong> ich wurde direkt aufgefordert, mir bei einem<br />

Bauern in der näheren Umgebung eine Arbeit zu suchen. Einmal habe ich mich überw<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

tatsächlich bei einem Bauern geklingelt. Das Hoftor ging auf <strong>und</strong> die Bäuerin fragte nach meinem<br />

Anliegen, das ich d<strong>an</strong>n auch vortrug. Sie brauchten niem<strong>an</strong>den! Die Frau wird sicher gedacht haben:<br />

Was stellt der kleine Junge sich wohl unter L<strong>an</strong>dwirtschaftsarbeit vor. Mutter meinte immer,<br />

sie könne <strong>aus</strong> ges<strong>und</strong>heitlichen Gründen nicht arbeiten gehen. Und da die Russen ihr „den Ernährer“<br />

genommen haben, erwartete sie diese Funktion von uns.<br />

Für mich st<strong>an</strong>d jetzt das Problem eines Schulabschlusses, ich hatte ja bisher nur sechs Jahre die<br />

Schule besucht <strong>und</strong> war außerdem noch nicht konfirmiert. Das durfte es für einen Christen nicht<br />

geben. Also ging ich mit Mutter in die Schule nach Bad Lauchstädt, der Direktor, damals ein Herr<br />

Wulfert, hörte sich unser Anliegen <strong>an</strong> <strong>und</strong> fragte d<strong>an</strong>n so halb Mutter, halb <strong>an</strong> mich gew<strong>an</strong>dt: „K<strong>an</strong>n<br />

er denn einigermaßen rechnen?“ „Na ja, das geht so einigermaßen“, meinte ich. „Und wie sieht’s<br />

mit Schreiben <strong>aus</strong>?“ „Eigentlich auch so einigermaßen“, <strong>an</strong>twortete ich wieder. In väterlicher Art<br />

sagte er d<strong>an</strong>n mehr <strong>an</strong> mich gew<strong>an</strong>dt: „Such dir eine Arbeit, mehr lernen die heute auch nicht!“<br />

Vielleicht hatte er Recht.<br />

Und nun die Konfirmation. Die hätte ich eigentlich schon 1946 kriegen müssen. Also hin zum Pfarrer.<br />

Es war Februar 1947 <strong>und</strong> der Tag der Konfirmation war traditionell immer Palmsonntag. Wir<br />

waren sechs Jungs, die mit dem Tr<strong>an</strong>sport nach Bad Lauchstädt kamen. Wir bekamen zweimal<br />

wöchentlich Religionsunterricht <strong>und</strong> er bereitete uns gezielt auf die bevorstehende Konfirmation<br />

vor. Am Sonntag vor der Konfirmation war immer die Prüfung der Konfirm<strong>an</strong>den vor der kirchlichen<br />

Gemeinde. So richtig traute er es uns wohl nicht zu, ordentlich zu bestehen. Bei den Prüfungsfra-<br />

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