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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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chenwald inhaftiert. Es war das gleiche Lager, in dem vorher 56 000 politische Gegner des Naziregimes<br />

<strong>und</strong> <strong>an</strong>dere Gef<strong>an</strong>gene umgebracht worden waren. 1947 wurde er mit der Auflage entlassen<br />

über diese Zeit zu schweigen. Dies sei hier erwähnt, weil über diese Thematik nie öffentlich gesprochen<br />

wurde.<br />

Für meine Tätigkeit erhielt ich einen St<strong>und</strong>enlohn von 0,37 RM. Dar<strong>aus</strong> ergab sich eine monatliche<br />

Entlohnung von etwa 56 RM. Das musste d<strong>an</strong>n für drei Personen im Monat reichen! Aus heutiger<br />

Sicht ebenso unvorstellbar wie die Arbeitszeit. Unter 16 wurden 42 St<strong>und</strong>en in der Woche gearbeitet,<br />

ab 16 Jahren galten 45 Wochenst<strong>und</strong>en. Erwachsene hatten eine wöchentliche Arbeitszeit von<br />

48 St<strong>und</strong>en.<br />

Mein Arbeitsweg: Früh von Kleinlauchstädt zum Bahnhof, reichlich ein Kilometer. Mit dem Zug zum<br />

Aussteigerbahnhof Merseburg-Elisabethhöhe, etwa acht Zugkilometer. Von dort zu Fuß ins Werk,<br />

etwa zwei Kilometer. Innerhalb des Werkes einige h<strong>und</strong>ert Meter zur Stechuhr meines Betriebes,<br />

meine Anwesenheit mit der Karte eingestochen, d<strong>an</strong>n zu Fuß zum Jugendbad zum Umziehen,<br />

mehr als einen Kilometer, den Weg zurück wieder reichlich einen Kilometer. D<strong>an</strong>n konnte die Arbeit<br />

beginnen – ich hatte bereits sechs Kilometer Fußmarsch hinter mir. Abends war der Weg etwas<br />

<strong>an</strong>ders, aber insgesamt legte ich jeden Tag ca. 12 Kilometer zu Fuß zurück, <strong>und</strong> das mit hohen<br />

Holzschuhen, die steif waren <strong>und</strong> keine beweglichen Sohlen hatten. Gearbeitet wurde <strong>an</strong> sechs<br />

Tage in der Woche, die Arbeit endete am Samstag 13.00 Uhr.<br />

Schon damals gab es ein Mittagessen in den Werksk<strong>an</strong>tinen. Das waren in den ersten Jahren nur<br />

Eintopfgerichte, wir pflegten zu sagen: Wasser wie dünn. Woher sollte in der Zeit auch was kommen?<br />

Samstags nahm ich ein Kochgeschirr mit <strong>und</strong> ließ mein Essen da hinein geben. Ich nahm es<br />

mit nach H<strong>aus</strong>e <strong>und</strong> es musste für alle drei reichen.<br />

Nach dem Krieg <strong>und</strong> insbesondere durch die neu <strong>an</strong>gesiedelten Flüchtlinge <strong>und</strong> Umsiedler, so<br />

n<strong>an</strong>nte m<strong>an</strong> uns, gab es viele Jugendliche ohne Schulabschluss <strong>und</strong> ohne Beruf. Vom Werk wurde<br />

eine Art Fortbildung org<strong>an</strong>isiert <strong>und</strong> Klassen gebildet. Nicht wenige weigerten sich <strong>und</strong> wollten lieber<br />

im Betrieb ihrer Arbeit nachgehen statt wieder die Schulb<strong>an</strong>k zu drücken, obwohl die Fortbildung<br />

während der Arbeitszeit stattf<strong>an</strong>d. Ich meinte ja früher auch immer für den Lehrer zu lernen<br />

<strong>und</strong> nicht für mich, aber jetzt sah ich das ein bisschen <strong>an</strong>ders. Für Verweigerer gab es ein g<strong>an</strong>z<br />

einfaches Druckmittel, m<strong>an</strong> entzog ihnen die Lebensmittelkarte. Das hätte besonders wehget<strong>an</strong>,<br />

denn als Chemiearbeiter erhielten sie eine Lebensmittelkarte mit erhöhter Zuteilung. Vergleichbares<br />

gab es auch in <strong>an</strong>deren Industriezweigen.<br />

Die Bildungsinhalte best<strong>an</strong>d <strong>aus</strong> Fächern der Allgemeinbildung, der größte Teil waren aber technische<br />

Fächer einschließlich Gr<strong>und</strong>lagen des technischen Zeichnens. Der Unterricht war einmal wöchentlich.<br />

Darüber hin<strong>aus</strong> gab es eine innerbetriebliche Weiterbildung, Jugendst<strong>und</strong>en gen<strong>an</strong>nt. In<br />

wöchentlich zwei St<strong>und</strong>en erklärten betriebliche Ingenieure <strong>und</strong> Techniker Themen wie Stahlgewinnung<br />

in Hochöfen u. Ä.<br />

Ich war immer noch in der Tr<strong>an</strong>sportkolonne <strong>und</strong> nicht besonders glücklich. Andere Mitschüler waren<br />

bei gest<strong>an</strong>denen Facharbeitern als Helfer tätig <strong>und</strong> von ihrer Arbeit <strong>an</strong>get<strong>an</strong>. Eines Tages ging<br />

ich verbotenerweise in den Elektrobetrieb des Werkes, überw<strong>an</strong>d meine Schüchternheit <strong>und</strong> fragte<br />

nach einer qualifizierteren Tätigkeit mit einer möglichen Perspektive. Verbotenerweise soll heißen,<br />

ich hätte mir vorher einen sogen<strong>an</strong>nten Laufschein von meinem zuständigen Meister holen müssen<br />

mit Angabe der Gründe <strong>und</strong> des Zieles. Auf so einem Laufschein wurde d<strong>an</strong>n von der betreffenden<br />

Stelle die dort verbrachte Zeit <strong>und</strong> Bestätigung mit Stempel <strong>und</strong> Unterschrift vermerkt. Das<br />

forderte die „Betriebsordnung“. Der Laufschein wurde im Betriebsbüro archiviert.<br />

Für mich wurde meine Vorsprache bei dem zuständigen Betriebsleiter des Elektrowerkes eine<br />

recht peinliche Angelegenheit. Ich hatte überhaupt nicht in Erwägung gezogen, dass sich diese<br />

erste Führungsgeneration des Werkes seit dem Betriebsaufbau 1936 k<strong>an</strong>nte <strong>und</strong> schon zu Zeiten<br />

der IG Farben hierher verpflichtet worden war. Noch während meiner Anwesenheit griff der Betriebsleiter<br />

zum Telefon <strong>und</strong> rief meinen Meister im Eisenbahnbetrieb <strong>an</strong>, um ihm meine Vorsprache<br />

<strong>und</strong> mein Anliegen mitzuteilen. Darauf verabschiedete er mich <strong>und</strong> ich zog erfolglos von d<strong>an</strong>nen.<br />

Zurück in meinem Betrieb war natürlich die Aussprache fällig. Meine Aktion brachte mir aber<br />

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