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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Kette ihren Besitzer gewechselt. Das gleiche galt für Ringe <strong>und</strong> <strong>an</strong>deren Schmuck. Nach dem<br />

Durchkämmen aller Gebäude, hielt sich die gesamte Truppe im Wohnh<strong>aus</strong> auf. Die Soldaten<br />

brachten <strong>aus</strong> dem Keller Most hoch, statt die Flaschen ordentlich zu öffnen, wurde einfach der Flaschenhals<br />

abgeschlagen, <strong>und</strong> einer von uns musste den ersten Schluck trinken, als Test gegen<br />

Vergiftung. D<strong>an</strong>n wurde die Flasche geleert <strong>und</strong> der Durst gestillt. Ein <strong>an</strong>derer brachte einen Napfkuchen<br />

<strong>aus</strong> der Speisekammer, zerbrach <strong>und</strong> teilte ihn sich mit <strong>an</strong>deren, d<strong>an</strong>n ließen sie sich’s<br />

schmecken. Für die mit Sicherheit sehr einseitig versorgten Soldaten war es sicher etwas Besonderes.<br />

Der Ehrlichkeit halber darf ich erwähnen, dass uns die Soldaten nichts get<strong>an</strong> haben. Außer dem<br />

Verlust der Uhren etc. gab es keine Missh<strong>an</strong>dlungen <strong>und</strong> Vergewaltigungen. Dies galt allgemein<br />

für die unmittelbar kämpfende Truppe. Die d<strong>an</strong>ach kamen, konnten Bestien sein, aber dazu später.<br />

Nach relativ kurzem Aufenthalt verließ uns dieser Trupp. Sie bewegten sich zum nächsten Gehöft.<br />

M<strong>an</strong> hörte keinen Schuss. Die Wehrmacht hatte sich abgesetzt. Wir bef<strong>an</strong>den uns in einem kampflos<br />

überlassenen Gebiet.<br />

Das war es vorerst! Der Verlust der Wertgegenstände war <strong>an</strong>gesichts unserer Befürchtungen<br />

schnell zu verkraften. Die Fr<strong>an</strong>zosen lernten ihre Kriegsverbündeten auf eine besondere Art kennen<br />

<strong>und</strong> der Pole sagte nur Gutes über seine deutsche Bauernfamilie <strong>aus</strong>, obwohl er sicher unter<br />

der herrschsüchtigen Bäuerin zu leiden hatte. Und nun war die scheinbare Ruhe wieder Alltag. Wir<br />

sahen weder deutsche noch sowjetische Soldaten <strong>und</strong> hatten nur mit der Versorgung des Viehs zu<br />

tun. Nach etwa zwei Tagen, überraschend, denn wir rechneten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr mit<br />

einem Besuch von sowjetischen Soldaten, näherte sich ein Pferdegesp<strong>an</strong>n, eine deutsche Kutsche<br />

mit zwei aufgesessenen Soldaten <strong>und</strong> Maschinenpistolen im Anschlag, in zügigem Tempo unserem<br />

Gehöft. Mitten auf dem Hof blieben sie stehen, setzten ab, durchsuchten wieder alle Gebäude<br />

<strong>und</strong> nahmen Kontakt mit uns auf. Wieder verlief alles ohne Belästigung <strong>und</strong> Missh<strong>an</strong>dlung. Der eine<br />

Soldat nahm dem kleinen Werner die Mütze vom Kopf <strong>und</strong> setzte sie ihm ein bisschen verunglückt<br />

wieder auf. Für mich st<strong>an</strong>d eindeutig fest, dass er sehen wollte, ob eine Pistole darunter versteckt<br />

war. Ein unmöglicher Ged<strong>an</strong>ke.<br />

So schnell wie sie gekommen waren, verschw<strong>an</strong>den sie wieder. Ab jetzt waren wir mehrere Tage<br />

im Niem<strong>an</strong>dsl<strong>an</strong>d, also zwischen zwei Fronten ohne wesentliche Frontaktivitäten. Außer gelegentlichem<br />

Geknatter von H<strong>an</strong>dfeuerwaffen war nichts Ernsthaftes von irgendeiner Seite zu bemerken.<br />

Gelegentlich zogen am unweit gelegenen Nachbargr<strong>und</strong>stück Wehrmachtssoldaten vorbei, wir sahen<br />

auch in größerer Entfernung ein deutsches Sturmgeschütz westlich von L<strong>an</strong>dsberg fahren,<br />

aber sonst ereignete sich nichts. Wir waren der Meinung, dass L<strong>an</strong>dsberg von der Wehrmacht eingekesselt<br />

war <strong>und</strong> die Vernichtungsschlacht vorbereitet wird. Woher diese irrige Meinung stammte,<br />

wusste niem<strong>an</strong>d. Wir sollten uns sehr getäuscht haben.<br />

Dieser Zust<strong>an</strong>d dauerte so etwa eine Woche. Eines Tages waren wir gerade dabei im Stall bzw. in<br />

der Scheune Futter für das Vieh aufzubereiten, da schlug kurz hinter der Stallung eine Gr<strong>an</strong>ate ein.<br />

Das Blechdach hörte sich <strong>an</strong>, als hätte jem<strong>an</strong>d Erbsen draufgeschüttet. <strong>Flucht</strong>artig suchten wir das<br />

Wohnh<strong>aus</strong> auf. Dort fühlten wir uns sicherer. Dieser Beschuss mit schwerer Artillerie war eigentlich<br />

die Ausnahme. Doch irgendwie hatten wir das Gefühl, dass sich demnächst etwas ereignen würde.<br />

An einem späten Nachmittag kamen zwei Wehrmachtssoldaten auf unser Gehöft <strong>und</strong> meinten unverblümt:<br />

„Morgen greift der Russe <strong>an</strong>. Wenn ihr noch weg wollt, d<strong>an</strong>n sofort!“ Die nächste Auff<strong>an</strong>glinie<br />

war in Buchholz, etwa. acht Kilometer westlich von unserem St<strong>an</strong>dort entfernt. Dort hatten<br />

sich die Reste der Wehrmacht noch einmal formiert um den Vormarsch der Roten Armee zeitlich<br />

etwas aufzuhalten. Im Prinzip hatten sich die Truppen bereits abgesetzt <strong>und</strong> eine Verteidigung war<br />

nicht zu erwarten. Nach dem Hinweis der beiden Soldaten wurde ein großer Kastenwagen vollgepackt,<br />

fast überladen, <strong>und</strong> es sollte beim Einsetzen der Dunkelheit losgehen. Es war von vornherein<br />

ein sinnloses Unterf<strong>an</strong>gen. Bei Schnee, gefrorenem Boden <strong>und</strong> Glätte überhaupt noch aufzubrechen<br />

<strong>und</strong> das mit einem total überladenen Wagen mit nur zwei Zugpferden <strong>und</strong> in hügeligem<br />

Gelände, das konnte nie gut gehen! Hinzu kam, dass wir nur Feldwege benutzen konnten. Und so<br />

wurde die Aktion nach höchstens einem Kilometer abgebrochen <strong>und</strong> es ging zurück. Da die Rote<br />

Armee bereits Stellung für den Angriff bezogen hatte <strong>und</strong> immer wieder Leuchtkugeln das Umfeld<br />

erhellten, wurden auch wir entdeckt <strong>und</strong> kamen unter Beschuss durch Maschinengewehre. In dem<br />

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