05.01.2013 Aufrufe

Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

duldet <strong>und</strong> für die Kühe war es eine Erlösung.<br />

Die Front rückte immer näher <strong>und</strong> zur Beschwichtigung der Bevölkerung wurde immer häufiger von<br />

einer W<strong>und</strong>erwaffe gesprochen, die bald zum Einsatz käme. Es müsste im Juni 1944 gewesen<br />

sein, da entschloss m<strong>an</strong> sich eine Verteidigungslinie im Litauischen, ca. 20 Kilometer von der<br />

Grenze entfernt, aufzubauen. Es ging um P<strong>an</strong>zergräben <strong>und</strong> Schützengräben, <strong>und</strong> das alles ohne<br />

größere Technik. Es war der Griff nach einem Strohhalm, denn solche Gräben waren kein echtes<br />

Hindernis, um P<strong>an</strong>zer <strong>und</strong> <strong>an</strong>dere Kriegstechnik aufzuhalten. Diese Aktion wurde nicht von der<br />

Wehrmacht, sondern von der Partei org<strong>an</strong>isiert. Alle Männer zumutbaren Alters wurden <strong>an</strong>derswo<br />

abgezogen <strong>und</strong> zum „Schippen“ verpflichtet. Die Macht der Partei <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Entmündigung<br />

der Wehrmacht ging so weit, dass lebenswichtige Dienststellen, die kriegswichtig waren,<br />

nicht mehr arbeiten konnten. Für diese Aktionen wurden zusätzlich auch Fremdarbeiter eingesetzt,<br />

die auch <strong>an</strong>derswo abgezogen werden mussten <strong>und</strong> d<strong>an</strong>n dort fehlten.<br />

Obwohl der Frontverlauf im Juni 1944 nur wenige 100 Kilometer vom Reichsgebiet entfernt war<br />

<strong>und</strong> die Lufthoheit durch die deutsche Luftwaffe schon l<strong>an</strong>ge verloren war, sind wir von sowjetischen<br />

Flugzeugen <strong>und</strong> möglichem Beschuss immer noch verschont geblieben. Eines Tages, es<br />

könnte Ende Mai oder schon Juni gewesen sein, hielten wir Jungs uns unbekümmert auf unserem<br />

Hinterhof auf <strong>und</strong> zählten Jagdflugzeuge, die in relativ niedriger Höhe über uns hinweg flogen. Bei<br />

genauem Hinsehen hätten wir erkennen müssen, dass die Maschinen kein Balkenkreuz, sondern<br />

den Sowjetstern als Hoheitszeichen hatten, <strong>und</strong> schon beg<strong>an</strong>nen sie mit ihren Bordwaffen Abwehrstellungen<br />

der Flak zu beschießen, die im Volkspark stationiert waren. Es gab ein fürchterliches<br />

Abwehrfeuer, die Maschinen drehten ab <strong>und</strong> der Spuk schien vorbei. Auch dies hatten wir bis<br />

dahin für unmöglich gehalten.<br />

Die Gerüchte über das schnelle Vordringen der Roten Armee wurden zum Tagesgespräch. M<strong>an</strong><br />

erzählte, dass sowjetische P<strong>an</strong>zerspitzen sich nachts bis auf 15 Kilometer genähert hätten. An eine<br />

Evakuierung war immer noch nicht zu denken, „die heldenhaften Abwehrkämpfe der Wehrmacht“<br />

<strong>und</strong> der baldige Einsatz der „W<strong>und</strong>erwaffe“ machten immer noch Hoffnung auf eine Veränderung<br />

der eigentlich hoffnungslosen Lage. Außerdem gab es vom Nazi-Gauleiter Erich Koch klare<br />

Weisungen, dass jeder erschossen wird, der ohne seine <strong>aus</strong>drückliche Genehmigung bzw. Aufforderung.<br />

H<strong>aus</strong> <strong>und</strong> Hof verlässt <strong>und</strong> sich auf die <strong>Flucht</strong> begibt.<br />

Die <strong>Flucht</strong> beginnt<br />

D<strong>an</strong>n, es war schon der vorgerückte Monat Juli, wurde die Evakuierung der Bevölkerung vorbereitet<br />

<strong>und</strong> preußisch-deutsch stabsmäßig org<strong>an</strong>isiert. Es klappte alles! Wir durften das gesamte bewegliche<br />

Inventar, außer Möbel, zum Abtr<strong>an</strong>sport vorbereiten. Kisten, W<strong>an</strong>nen, Körbe <strong>und</strong> sonstige<br />

Großraumverpackungen wurden beschafft <strong>und</strong> alles ohne Hektik ordentlich verpackt. Erwin fertigte<br />

noch im Betrieb große Kisten <strong>an</strong>, so ordentlich, dass sie fast wie Möbelstücke wirkten. Die<br />

Tischlerei, in der er auch gelernt hatte, arbeitete noch mit voller Kapazität, d<strong>an</strong>k verpflichteter ziviler<br />

Litauer. Hauptsächlich produzierte sie zu dieser Zeit Holzeinschalungen zur Herstellung von<br />

Zweim<strong>an</strong>n-Bunkern. Alles Gepäck wurde ordentlich nach Zeitpl<strong>an</strong> abgeholt, zum Bahnhof tr<strong>an</strong>sportiert<br />

<strong>und</strong> in Güterwagen verladen. Für uns wurden Personenwagen auf dem Gleis bzw. Bahnsteig<br />

bereitgestellt, auf dem üblicherweise die Personenzüge abfuhren. Es war der 31. Juli 1944, ich erinnere<br />

mich noch genau dar<strong>an</strong>, weil der 31. Juli, der dritte Todestag von unserem Walter war.<br />

Wir wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, dass die Front nur reichlich 20 Kilometer entfernt war.<br />

Deshalb fürchteten wir uns nach wie vor nicht vor einem Flugzeug<strong>an</strong>griff <strong>und</strong> bewegten uns im Gefühl<br />

der Sicherheit. Die Güterwagen waren noch nicht <strong>an</strong> unseren Zugteil <strong>an</strong>gehängt, somit mussten<br />

wir weiter warten. Ich schaute <strong>aus</strong> dem offenen Fenster unseres Wagenabteils <strong>und</strong> sah in geringer<br />

Entfernung <strong>und</strong> Höhe etwa 6 Flugzeuge auf uns zukommen. D<strong>an</strong>n blitzte es <strong>an</strong> den Maschinen<br />

gleichzeitig auf. Obwohl es ein sonniger Tag war, konnte m<strong>an</strong> die Mündungsfeuer der Bordwaffen<br />

deutlich erkennen. Auf einem der Nebengleise st<strong>an</strong>d eine Güterzugeinheit mit aufmontierten<br />

Flakgeschützen. Die eröffneten zeitgleich das Feuer, die Flugzeuge drehten ab <strong>und</strong> wieder<br />

fühlten wir uns sicher <strong>und</strong> warteten weiter auf die Abfahrt. Die Meisten von uns hatten den Gr<strong>und</strong><br />

des Flakfeuers gar nicht mitbekommen, es gab keine P<strong>an</strong>ik, niem<strong>an</strong>d musste beruhigt werden.<br />

54

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!