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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Hoofe. Bei unseren Masurenr<strong>und</strong>fahrten <strong>und</strong> dem Abstecher nach Hoofe 1997 erfuhren wir, dass<br />

Alwin doch in jüngerer Zeit nach Deutschl<strong>an</strong>d übergesiedelt war, aber bald wieder zurückkam. In<br />

diesem neuen Deutschl<strong>an</strong>d f<strong>an</strong>d er sich vermutlich nicht mehr zurecht. Er ist in Hoofe verstorben,<br />

eine Tochter lebt noch dort.<br />

Zurück zur Situation 1946: Außer mit dem Aufbau von Behörden beg<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> auch die Infrastruktur<br />

zu entwickeln. Zur Unterstützung der L<strong>an</strong>dwirtschaft wurden Traktorenstationen gebildet, damit<br />

die Bauern große Flächen bearbeiteten konnten. Die Absicht war wohl die Gr<strong>und</strong>lagen für eine Kollektivierung<br />

der L<strong>an</strong>dwirtschaft zu schaffen, die aber nicht zum Tragen kam. Zumindest in dieser<br />

Region galt immer noch die alte unproduktive Regel: Ein Bauer ein Pferd, eine Bäuerin eine Kuh.<br />

Es wurde nur für die Familie produziert. Diese Traktoren stammten fast <strong>aus</strong>nahmslos <strong>aus</strong> den U-<br />

SA.<br />

In dieser Zeit gab es auch Anfänge einer Elektrizitätsversorgung. So hatte m<strong>an</strong> in L<strong>an</strong>dsberg ein<br />

Lokomobil funktionsfähig gemacht <strong>und</strong> betrieb einen Generator. Bei dem hohen Brennstoffbedarf –<br />

es st<strong>an</strong>d nur Holz zur Verfügung – war die Stromversorgung auf nur wenige St<strong>und</strong>en begrenzt <strong>und</strong><br />

sie war auch nicht flächendeckend.<br />

Nun ein Ereignis, das uns unmittelbar betraf <strong>und</strong> uns viele Sorgen bereitete. Es war die Zeit der<br />

Kartoffelernte. Mutter war bei der polnischen Familie Renkewitz helfen, Werner war auch mit <strong>und</strong><br />

spielte mit Miros. Allerdings hatten sie sich ein gefährliches Spielzeug <strong>aus</strong>gesucht. Es war eine<br />

kleine Dreschmaschine, nach heutigen Maßstäben ein Museumsstück. Angetrieben wurden diese<br />

Geräte über ein „Rosswerk“, also mit Pferden. Die relativ großen Zahnräder vom Antrieb waren –<br />

konstruktiv bedingt – unverkleidet. Werner drehte am großen Zahnrad, um die Schlagwelle in Drehung<br />

zu bringen. Miros legte Stroh ein, um den Dreschvorg<strong>an</strong>g zu simulieren. Und beim Drehen<br />

des Zahnrades merkte Werner nicht, dass er sich dem Gegenzahnrad immer weiter näherte. D<strong>an</strong>n<br />

passierte es. Werners linker Daumen war zwischen die Zähne gekommen, alles war in Bewegung<br />

<strong>und</strong> instinktiv riss er seine H<strong>an</strong>d her<strong>aus</strong>. Die Daumenkuppe fehlte, es guckte nur der Knochen vor.<br />

Hinzu kam, dass die Zahnräder mit einem alten Schmierfett versehen waren <strong>und</strong> die W<strong>und</strong>e entsprechend<br />

<strong>aus</strong>sah.<br />

P<strong>an</strong> Renkewitz war überfordert, Mutter auch. Sie schimpfte den kleinen Werner mit etwa folgenden<br />

Worten: „Da habe ich nun ein ges<strong>und</strong>es Kind geboren <strong>und</strong> du tust mir so etwas <strong>an</strong>.“ So war unsere<br />

Mutter! Das war ihre Art Trost. Ich war zu H<strong>aus</strong>e, als Mutter mit Werner erschien. Um den Daumen<br />

wurde als eine Art Erstversorgung ein Lappen geb<strong>und</strong>en. Alles Weitere zur Lösung wurde mir übertragen:<br />

„Sieh zu wie es weitergeht!“ war ihre Meinung zu der Sache. Ich lief mit Werner zu Wlader<br />

Sawko, der mit wenigen Worten sein Pferd <strong>an</strong> den Wagen sp<strong>an</strong>nte <strong>und</strong> wir fuhren zu dritt nach<br />

L<strong>an</strong>dsberg.<br />

Im Sommer 1946 hatte ein Arzt seine Praxis eröffnet. Es war ein älterer gesetzter Herr, der<br />

deutsch gen<strong>aus</strong>o gut sprach wie wir. Wir waren sogar der Meinung, dass er Deutscher sein müsse.<br />

Die Frau sprach im Gegensatz zu ihm gar kein Deutsch. Wlader sagte zu Werner, dass er nicht<br />

sprechen solle, er wollte ihn als seinen Sohn für die Beh<strong>an</strong>dlung vorstellen. Das klappte aber nicht<br />

l<strong>an</strong>ge. Für den Arzt war es zu dieser Zeit auch gewagt, einen Deutschen zu beh<strong>an</strong>deln. Werner<br />

bekam eine Spritze, vermutlich gegen Tet<strong>an</strong>us <strong>und</strong> einen Verb<strong>an</strong>d. Wir sind zu Beginn täglich,<br />

d<strong>an</strong>n in größer werdenden Abständen zum Verb<strong>an</strong>dswechsel geg<strong>an</strong>gen. Da der Verb<strong>an</strong>d immer<br />

festgeklebt war, wurde er in einer Desinfektionslösung abgeweicht <strong>und</strong> ein neuer Verb<strong>an</strong>d <strong>an</strong>gelegt.<br />

Ich blieb immer draußen <strong>und</strong> mied den Kontakt mit dem Arzt. Das G<strong>an</strong>ze durfte ja nicht auffallen.<br />

Später ist d<strong>an</strong>n Werner allein nach L<strong>an</strong>dsberg zum Arzt geg<strong>an</strong>gen. Von dem Arztehepaar wurde<br />

Werner wiederholt befragt, ob wir genügend zu essen hätten <strong>und</strong> wie es uns Deutschen geht.<br />

Sie gaben ihm auch etwas zu essen, <strong>und</strong> gingen sogar mit ihm zu sich nach H<strong>aus</strong>e.<br />

Wie aber die Beh<strong>an</strong>dlung bezahlen? Im Gespräch zwischen Wlader <strong>und</strong> dem Arzt kamen beide auf<br />

den Ged<strong>an</strong>ken, dass Wlader im Wald Holz schlägt <strong>und</strong> damit den Arzt künftig versorgt. Das sprach<br />

sich auch im Bek<strong>an</strong>ntenkreis des Arztes herum <strong>und</strong> Wlader hatte ein verlässliches Einkommen.<br />

Für den Holzeinschlag waren jedoch zwei Personen erforderlich. Die zweite Person war ich. Wir<br />

begaben uns fast täglich in eins unserer nahe gelegenen Wäldchen, fällten Bäume, sägten sie zu<br />

Meterlängen, spalteten das Holz <strong>und</strong> fuhren es nach L<strong>an</strong>dsberg. Ich erlernte auf diese Art das ge-<br />

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