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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Es dürfte April gewesen sein, als wir beobachteten, dass die Ausbildungseinheit vom L<strong>an</strong>gh<strong>an</strong>s´schen<br />

Gr<strong>und</strong>stück abgezogen wurde. Die Marschmusik verstummte <strong>und</strong> wir sahen auch die<br />

Fahrzeuge fahren. Der Entschluss st<strong>an</strong>d vorher schon fest, dass die L<strong>an</strong>gh<strong>an</strong>s´sche Sippe jetzt<br />

wieder auf das eigene Gr<strong>und</strong>stück zurückgeht. Immerhin waren es noch neun Personen, darunter<br />

zwei Kinder. Wer nicht gerne mitging, das war die Schwiegertochter mit ihrer Mutter <strong>und</strong> der jüngeren<br />

Schwester, die besonders unter den Russen gelitten hatte. Allerdings st<strong>an</strong>d die Entscheidung<br />

fest, denn die junge Frau L<strong>an</strong>gh<strong>an</strong>s st<strong>an</strong>d unmittelbar vor der Entbindung <strong>und</strong> brauchte Sicherheit.<br />

Für uns ergab sich nun eine vollkommen neue Situation: Wir, das waren Mutter, Klein Werner, Opa<br />

Thieler <strong>und</strong> ich. Es st<strong>an</strong>d von vornherein fest, dass wir auf dem Gr<strong>und</strong>stück Kr<strong>aus</strong>e bleiben. Das<br />

Zusammensein mit der alten Frau L<strong>an</strong>gh<strong>an</strong>s hätte ohnehin keine Zukunft gehabt. Die <strong>an</strong>dere Seite<br />

wollte es auch sicher nicht. Die junge Frau <strong>aus</strong> L<strong>an</strong>dsberg mit der 8jährigen Tochter, die sich uns<br />

in Peisken <strong>an</strong>geschlossen hatte, suchte sich auch wieder eine Bleibe in der Stadt, hielt aber noch<br />

eine längere Zeit Kontakt zu uns.<br />

Da ich zu Opa Thieler bisher kaum etwas erwähnt habe, jetzt etwas umfassender zu seiner Person.<br />

Er war einer von den Männern in Reddenau, die die Russen auch mitgenommen hatten. Er<br />

wurde in Rastenburg nach dem Verhör wieder entlassen, weil er älter als 70 Jahre war <strong>und</strong> ein<br />

kr<strong>an</strong>khaftes Zittern hatte. Emil Thieler kam <strong>aus</strong> dem Raum Schloßberg, unserem Nachbarkreis,<br />

ebenfalls in der Nähe der litauischen Grenze gelegen. Dort überschritt die Rote Armee zuerst die<br />

deutsche Reichsgrenze. Die Bewohner von dort sollten noch in geordneten Trecks der Sowjetarmee<br />

entkommen. Im Raum Preußisch-Eylau lief er neben Gesp<strong>an</strong>n <strong>und</strong> Wagen, um sich warm zu<br />

halten. Die Schwiegertochter fuhr. Durch die bereits unorg<strong>an</strong>isierten Bewegungen der Trecks verlor<br />

er den Wagen <strong>und</strong> war allein. So begegneten wir uns auf dem Kohnschen Hof, auf dem Abbau<br />

in Reddenau. Seitdem gehörte er zu unserer Gruppe <strong>und</strong> wurde auch mit versorgt. Er blieb bis zum<br />

Verlassen der ostpreußischen Heimat <strong>und</strong> auch noch im Quar<strong>an</strong>tänelager Torgau im J<strong>an</strong>uar 1947<br />

bei uns.<br />

Ohne uns hätte er in dieser schweren Zeit mit Sicherheit nicht überleben können. Dies sah er jedoch<br />

<strong>an</strong>ders als wir. Oft war es nicht einfach mit ihm, denn er war überzeugt etwas Besseres zu<br />

sein, entsprechend seiner Herkunft <strong>und</strong> Stellung als Gr<strong>und</strong>besitzer. Er besaß ein überdurchschnittlich<br />

großes Gr<strong>und</strong>stück, die Kinder mussten alle st<strong>an</strong>desgemäß studieren, „auch wenn die letzte<br />

Kuh geopfert werden musste“, so wörtlich von ihm. Er war im Kirchenrat des Kirchspiels Schloßberg<br />

in besonderer Funktion wirksam <strong>und</strong> jetzt fühlte er sich berufen, <strong>und</strong> das bis zu unserer Ausreise<br />

<strong>aus</strong> <strong>Ostpreußen</strong>, Gottes Wort zu verbreiten, im Raum Hoofe Kinder zu taufen <strong>und</strong> Tote zu<br />

beerdigen. Auch Bibelst<strong>und</strong>en hielt er bei H<strong>aus</strong>besuchen ab. Ohne Bibel <strong>und</strong> Ges<strong>an</strong>gbuch ging er<br />

nie <strong>aus</strong> dem H<strong>aus</strong>. Bei uns gab es täglich nach dem Frühstück die Morgen<strong>an</strong>dacht. Ein Stückchen<br />

Text <strong>aus</strong> der Bibel <strong>und</strong> mehrere Strophen eines Liedes <strong>aus</strong> dem Ges<strong>an</strong>gbuch waren obligatorisch.<br />

Es waren immer zur Situation passende Texte. So z. B. folgende Strophe <strong>aus</strong> dem Ges<strong>an</strong>gbuch:<br />

„Wie schändlich ist, wenn ein Soldat dem Feind den Rücken kehret, wie schändlich, wenn er seine<br />

Stadt verlässt <strong>und</strong> sich nicht wehret…“, usw. usf. Nun war der kleine L<strong>an</strong>dser schuld <strong>an</strong> der Situation,<br />

in der wir uns bef<strong>an</strong>den! Aber letztlich war ja bei ihm alles gottgewollt <strong>und</strong> für uns eine Prüfung.<br />

Nach all dem Erlebten kamen bei uns Zweifel auf.<br />

Da ich unter Normalbedingungen zu dieser Zeit am Konfirmationsunterricht teilgenommen hätte,<br />

fühlte er sich berufen, mir den Unterricht aufzuerlegen. Obwohl ich christlich erzogen <strong>und</strong> nach den<br />

Zehn Geboten lebte, war es m<strong>an</strong>chmal zu viel des Guten <strong>und</strong> ich entwickelte eine innere Opposition<br />

wegen seines fordernden <strong>und</strong> her<strong>aus</strong>fordernden Verhaltens. Seine beherrschende Art ging<br />

letztlich so weit, dass er selbst Mutter in die Pflicht nahm <strong>und</strong> wie eine Untergebene betrachtete.<br />

Für ihn waren alle Dienstleistungen ihm gegenüber selbstverständlich. Zur Verträglichkeit erzogen,<br />

nahmen wir es sehr l<strong>an</strong>ge so hin. L<strong>an</strong>gsam nervten seine überl<strong>an</strong>gen Gebete aber, zumindest<br />

mich. Bei uns wurde auch zu den Mahlzeiten gebetet, aber <strong>an</strong>gemessen l<strong>an</strong>g. Bei ihm musste es<br />

immer länger sein, mit Ironie gesagt: „Bis das Essen kalt wurde!“<br />

Zur Ver<strong>an</strong>schaulichung seines <strong>an</strong>maßenden Verhaltens zwei Beispiele: In den ersten Monaten<br />

1945 f<strong>an</strong>den wir <strong>aus</strong>reichend Fleischprodukte, meist geräuchert. Jetzt, Ende März bzw. April, waren<br />

das Ausnahmen. Eines Tages f<strong>an</strong>d Mutter noch einen unversehrten geräucherten Gänseschinken.<br />

Er wurde gründlich gewaschen <strong>und</strong> getrocknet <strong>und</strong> luftig unter einem H<strong>an</strong>dtuch in der<br />

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