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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

len. Unmittelbar <strong>an</strong> der Grenzbrücke patrouillierten Posten mit aufgestecktem Bajonett <strong>und</strong> Gewehr<br />

im Anschlag. Trotz Sommers trugen sie dicke Mützen mit einem kleinen Zipfel obendrauf. Gewöhnungsbedürftig<br />

für uns. Die Personenkontrollen wurden meist von uniformierten Frauen durchgeführt.<br />

Sehr gründlich! Alles in allem war das so <strong>an</strong>gsteinflößend, dass der Grenzg<strong>an</strong>g bald von<br />

selbst beendet wurde. Es hieß wohl, dass die Verträge mit Litauen abgelaufen wären.<br />

Zeitlich k<strong>an</strong>n ich es nicht mehr genau einordnen, aber von deutscher Seite versuchte m<strong>an</strong> d<strong>an</strong>n<br />

den Einblick in die Stadt weitestgehend zu verhindern. So z.B. wurde eine hohe Bretterw<strong>an</strong>d zwischen<br />

dem Zollamt, dem abschließenden Gebäude des Marktes zur Grenze, <strong>und</strong> <strong>an</strong>grenzenden<br />

Gebäuden errichtet. Die W<strong>an</strong>d war <strong>an</strong>nähernd so hoch wie die dortigen Häuser. Die <strong>an</strong>dere Seite<br />

des Zollamtes, es war die von Litauen kommende Straße, erhielt ebenfalls eine hohe Bretterw<strong>an</strong>d<br />

mit einem großen Tor, das nur im „Bedarfsfall“ geöffnet wurde.<br />

Nun zu den „Bedarfsfällen“. Bald verließen org<strong>an</strong>isierte Trecks Litauen. Möglicherweise kamen sie<br />

auch <strong>aus</strong> <strong>an</strong>deren Baltenländern. Es waren Deutsche, mit Sicherheit Bauern, die eine unheilvolle<br />

Entwicklung in den besetzten Ländern erahnten <strong>und</strong> sich in Sicherheit bringen wollten. Vermutlich<br />

wurde dies aber auch von Deutschl<strong>an</strong>d gesteuert. Hierfür wurde kurzzeitig das Tor geöffnet, aber<br />

nach dem Durchlass sofort wieder geschlossen. Die Familien<strong>an</strong>gehörigen kamen meist mit dem<br />

Zug, denn m<strong>an</strong> sah allgemein nur zwei Geschirrführer auf den Wagen. Der Großteil dieser Menschen<br />

wurde in neu errichteten Lagern untergebracht, es war nur für eine Überg<strong>an</strong>gszeit gepl<strong>an</strong>t,<br />

denn sie sollten ja möglichst bald nach dem Kriegsbeginn gegen die Sowjetunion wieder zurückkehren.<br />

Der Kriegsbeginn mit Fr<strong>an</strong>kreich <strong>und</strong> den Beneluxländern im Mai 1940 betraf uns noch weniger.<br />

Fr<strong>an</strong>kreich war ja fast unvorstellbar weit weg <strong>und</strong> wir vernahmen nur die Erfolgsmeldungen der<br />

Wehrmacht oder erlebten diese im Kino in der Wochenschau. Eine direkte Beziehung gab es aber<br />

doch: Am Stadtr<strong>an</strong>d wurde ein Gef<strong>an</strong>genenlager errichtet. Wir sammelten Zigarettenkippen; der<br />

Tabak dar<strong>aus</strong> sah richtig gut <strong>aus</strong>, st<strong>an</strong>k aber zum Erbrechen. Ein d<strong>an</strong>kbarer Artikel als T<strong>aus</strong>chobjekt<br />

für Holzschnitzereien! Zigaretten hatten im Allgemeinen keinen Filter. Dadurch war die Tabak<strong>aus</strong>beute<br />

recht ergiebig.<br />

Was wirklich Krieg ist, sollten wir d<strong>an</strong>n bald im direkten Erleben erfahren, aber unser sorgenfreier<br />

kindlicher Alltag ging vorerst weiter. Wir Jungs hatten uns in einem Komposthaufen des grenznächsten<br />

Bauerngehöftes des Bauern Achenbach einen primitiven Unterst<strong>an</strong>d gebaut, ein rom<strong>an</strong>tischer<br />

Freizeitaufenthalt. Auch das hatte bald ein Ende. Die Kriegsvorbereitung war in vollem G<strong>an</strong>ge,<br />

zwar unauffällig, m<strong>an</strong> entdeckte aber immer wieder neue Aktivitäten. Und dazu gehörte, dass<br />

Soldaten <strong>aus</strong> unserem Unterst<strong>an</strong>d einen richtigen militärischen <strong>aus</strong> Wellblechelementen bauten.<br />

Wir durften ihn gelegentlich <strong>an</strong>sehen. Unmittelbar vor Kriegsbeginn wurde im <strong>an</strong>grenzenden Garten<br />

dieses Gehöftes eine PAK (P<strong>an</strong>zerabwehrk<strong>an</strong>one) postiert. Natürlich schön getarnt. Auch die<br />

durften wir uns mal <strong>an</strong>sehen. Es war nur eine leichte PAK. Wahrscheinlich war das von den Soldaten<br />

gewollt, dass dort Kinder öfter zu sehen waren. Von dort war auf der litauischen Seite eine mittelgroße<br />

Kaserne zu sehen. Sie soll bei Kriegsbeginn von dieser PAK in Br<strong>an</strong>d geschossen worden<br />

sein. Wir haben sie d<strong>an</strong>n auch selbst brennen gesehen.<br />

In der Scheune des Bauern war eine Brücke vormontiert, die von Pionieren sofort bei Angriffsbeginn<br />

als Hauptüberg<strong>an</strong>g über die Lepone montiert wurde. Hier überquerte die gesamte schwere<br />

Kriegstechnik <strong>aus</strong> diesem Abschnitt die Grenze, u. a. P<strong>an</strong>zer <strong>und</strong> schwere Geschütze. M<strong>an</strong> ging<br />

wohl davon <strong>aus</strong>, dass die alte Straßenbrücke einer größeren Belastung nicht mehr st<strong>an</strong>dhielt. Nur<br />

wenige Wochen vor Kriegsbeginn wurden rings um die Stadt Geschützstellungen <strong>aus</strong>gehoben <strong>und</strong><br />

großkalibrige Geschütze stationiert, sichtgeschützt durch einen Wall <strong>und</strong> Tarnnetze. Ein Geschütz<br />

st<strong>an</strong>d unmittelbar <strong>an</strong> meinem Schulweg <strong>und</strong> unweit eines Gehöftes, von Bauer Mett. Wir meinten,<br />

selbst als Kinder, dass die Dachziegel das beim ersten Schuss wohl nicht überleben würden.<br />

Alles deutete auf den Kriegsbeginn gegen die Sowjetunion hin. Damals wurde allgemein Russl<strong>an</strong>d<br />

gesagt, <strong>und</strong> auch später meist von Russen gesprochen, obwohl es ein Vielvölkerstaat war <strong>und</strong> diese<br />

Völker sich kulturell <strong>und</strong> z. T. auch äußerlich merkbar unterschieden. Der Aufstellungsraum der<br />

Wehrmacht vollzog sich unauffällig in Grenznähe, blieb uns aber nicht g<strong>an</strong>z verborgen. In einem<br />

Turm der Kirche wurde ein Segment entfernt, es sollte wohl ein Artilleriebeobachtungspunkt wer-<br />

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