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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Als Wlader einmal einen Drachen fliegen sah, war das für ihn irgendein teuflisches Etwas. Allerdings<br />

war er relativ weit weg <strong>und</strong> konnte den Geist nur <strong>aus</strong> der Ferne betrachten.<br />

Doch die Polen waren sehr abergläubisch. Was nicht direkt erklärbar war, hatte meist etwas mit<br />

Geistern zu tun. Ein Beispiel: Ich war mir Ludwig Sawko auf einer abseits liegenden einsamen<br />

Straße unterwegs, um Splitt für den Straßenbau zu holen. Allein auf weiter Flur fährt eine gewisse<br />

Unsicherheit immer mit. Ludwig erzählte eine Spukgeschichte, in der der Teufel vorkam. Ich konnte<br />

nicht <strong>an</strong>ders, als laut auf Polnisch zu rufen: „Teufel, komm hierher!“ Ich dachte, er fällt vom Wagen.<br />

Er bat mich energisch, das nicht mehr zu tun. Er würde einen Fall kennen, wo jem<strong>an</strong>d bei einem<br />

ähnlichen Ereignis in die Luft geschleudert <strong>und</strong> dabei schwer verletzt wurde. Er glaubte wirklich<br />

dar<strong>an</strong>!<br />

Im Spätsommer 1946 wurde immer häufiger davon gesprochen, dass die Deutschen bald <strong>aus</strong>gesiedelt<br />

würden. Zumindest ein Tr<strong>an</strong>sport sollte vorbereitet werden. Verbindliche Aussagen gab es<br />

nicht. Wer „Masurka“ war <strong>und</strong> sich damit zur polnischen Staatszugehörigkeit bek<strong>an</strong>nte, durfte bleiben.<br />

In unserer Region gab es jedoch keine sogen<strong>an</strong>nten Masuren, diese wechselten historisch<br />

gesehen wiederholt die Staatszugehörigkeit oder lebten als polnische Minderheit im territorialen<br />

Masuren. Sie sprachen perfekt Deutsch <strong>und</strong> Polnisch, aber in der Umg<strong>an</strong>gssprache bevorzugte<br />

m<strong>an</strong> Plattdeutsch, vergleichbar mit unserem.<br />

Ich k<strong>an</strong>nte nur einen in unserem Dorf Hoofe, der diese Möglichkeit nutzte. Aber das ist eine Story<br />

für sich: Im vorgerückten Sommer 1945 tauchte eines Tages ein junger M<strong>an</strong>n in Wehrmachtsuniform<br />

auf, so knapp 17 Jahre alt. Es war Alwin Bierm<strong>an</strong>n, der bereits früher <strong>und</strong> auch jetzt wieder<br />

bei seinem Großvater lebte. Von den Einheimischen wurde er nur „Schwienskopp“ (Schweinekopf)<br />

gen<strong>an</strong>nt. Das kam sicher daher, weil er einen breiten dicken Kopf hatte <strong>und</strong> der Hals zu kurz geraten<br />

war. Der Spitzname passte zu ihm. Er hatte sich selbst dar<strong>an</strong> gewöhnt so gerufen zu werden.<br />

Alwin war ein Luftikus <strong>und</strong> galt als unglaubwürdig. Uns erzählte er Folgendes: In den letzten<br />

Kriegstagen wurde er noch zur Wehrmacht eingezogen. In der Nähe von Saalfeld, also in Thüringen,<br />

hat er das Kriegsende erlebt. Sein spätes Auftauchen im Dorf begründete er damit, dass es<br />

ein l<strong>an</strong>ger Weg gewesen sei, <strong>an</strong>nähernd 1000 Kilometer. Zweifel <strong>an</strong> seiner Version waren, denn in<br />

Wehrmachtsuniform zu jener Zeit wäre das mehr als ein Wagnis gewesen, sich bis <strong>Ostpreußen</strong> zu<br />

bewegen. Im Dorf nahm m<strong>an</strong> ihm diese Geschichte nicht ab. Er war so ein abenteuerlustiger Typ,<br />

der seine Freiheiten suchte <strong>und</strong> auch f<strong>an</strong>d. Im Prinzip lebte er für den Moment <strong>und</strong> überließ die<br />

Zukunft dem Zufall. Dabei ging er Risiken ein, die für ihn verhängnisvoll hätten sein können.<br />

Dazu folgendes Beispiel, ich war unmittelbar dabei: Alwin kam wieder einmal von einer „Erlebnistour“<br />

zurück. Ich hatte gerade seinen Opa besucht <strong>und</strong> ihm eine zusammengebastelte Uhr gebracht.<br />

Sein Opa war ein liebenswerter Mensch, hilfsbereit <strong>und</strong> aufgeschlossen. Größer hätte der<br />

Gegensatz zu seinem Enkel gar nicht sein können. Er erzählte, dass er gerade zum 42. Mal die<br />

gleichen Knochen <strong>aus</strong>gekocht hätte, ein bisschen Fett oder der Geschmack kommen immer noch<br />

r<strong>aus</strong>, meinte er. Alwin trat ins Zimmer, er hatte einen Wehrmachtskarabiner umgehängt, suchte<br />

etwas unter einem Kleiderschr<strong>an</strong>k, <strong>und</strong> wickelte d<strong>an</strong>n ein „Gewehrschloss“ <strong>aus</strong> einem Tuch. Das<br />

Gewehrschloss, geölt <strong>und</strong> funktionsfähig, war schon länger in seinem Besitz. Der Karabiner war total<br />

verdreckt, er hatte wohl monatel<strong>an</strong>g irgendwo auf der Erde gelegen. Ohne ihn zu reinigen,<br />

würgte er das Schloss hinein. Mit Munition hatte er sich schon bevorratet, sie lag <strong>aus</strong>reichend überall<br />

herum. Alwin schoss in die Luft <strong>und</strong> hatte sein Erfolgserlebnis. Welcher Gefahr er sich mit<br />

dem Waffenbesitz <strong>aus</strong>gesetzt hatte, das zählte nicht. Es sollte später noch Steigerungen geben. In<br />

der Dunkelheit schüchterte er die im näheren Umkreis lebenden Deutschen ein. Er schoss auf alles,<br />

was ihm gerade als Ziel recht war, zum Glück ist aber nichts passiert. Helmut durfte bei dieser<br />

Spielerei dabei sein.<br />

Eines Tages suchte m<strong>an</strong> für ein Objekt in Großpeisken Wachleute. Das war dort, wo uns Anf<strong>an</strong>g<br />

März der Sowjetoffizier nach der Beschwerde unserer Frauen wegen ständiger Belästigungen<br />

durch russische Soldaten vertreiben ließ. Alwin, mutig wie immer, hängte seinen Karabiner über<br />

<strong>und</strong> marschierte in seiner Wehrmachtsuniform auf direktem Weg dorthin. Er erklärte sich selbst<br />

zum „Masur“, bekam eine rote Armbinde <strong>und</strong> galt jetzt als Pole. Der Name Bierm<strong>an</strong>n, richtig<br />

deutsch, war kein Hinderungsgr<strong>und</strong>. Später erfuhr ich, dass Alwin ein polnisches Mädchen kennen<br />

gelernt <strong>und</strong> sie geheiratet hat. Mit der <strong>an</strong>genommenen polnischen Staatbürgerschaft verblieb er in<br />

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