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Hardt, Michael & Negri, Antonio - Empire.-.Die neue Weltordnung.pdf

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SYMPTOME DES ÜBERGANGS 161<br />

<strong>Die</strong>se gängigen Darstellungen der Fundamentalismen als Rückkehr zu<br />

einer vormodernen oder traditionellen Welt und deren gesellschaftlichen<br />

Werten verhüllen jedoch mehr als sie erhellen. In Wahrheit nämlich gründen<br />

diese Visionen einer Rückkehr zur Vergangenheit im allgemeinen auf<br />

historischen Illusionen. So existierte beispielsweise die Reinheit und Ganzheitlichkeit<br />

der gefestigten, heterosexuellen Kernfamilie, die von den<br />

christlichen Fundamentalisten propagiert wird, in den Vereinigten Staaten<br />

zu keiner Zeit. <strong>Die</strong> »traditionelle Familie«, die hier als ideologische Begründung<br />

dient, ist nichts als ein Pastiche aus Werten und Praktiken, die<br />

eher aus Fernsehserien stammen denn aus irgendwelchen tatsächlichen historischen<br />

Erfahrungen mit der Institution Familie. 20 Hier wird ein fiktionales<br />

Bild auf die Vergangenheit projiziert, das retrospektiv im Lichte gegenwärtiger<br />

Ängste und Befürchtungen konstruiert wird. <strong>Die</strong> christlichfundamentalistische<br />

»Rückkehr zur traditionellen Familie« ist alles andere<br />

als rückwärtsgewandt, sondern vielmehr eine Neuerfindung, die Teil eines<br />

gegen die augenblickliche Gesellschaftsordnung gerichteten politischen<br />

Projekts ist.<br />

Ähnlich sollte man die heutigen Formen des islamischen Fundamentalismus<br />

nicht als Rückkehr zu vergangenen Gesellschaftswerten und ­formen<br />

betrachten, nicht einmal aus der Perspektive derer, die ihn praktizieren:<br />

»Solche Phänomene im Islam als >fundamentalistisch< zu bezeichnen ist<br />

einzig insofern zutreffend, als sie darauf beharren, dass zwei ursprüngliche<br />

Quellen das Fundament des Islam bilden: der Koran und die Sunna des Propheten<br />

Mohammed. Sonst aber betonen sie ijtihad, das ursprüngliche Denken.«<br />

(Rahman 1984, 142). <strong>Die</strong> heutigen islamischen Radikalismen gründen<br />

in der Tat vornehmlich auf dem »ursprünglichen Denken« und der Erfindung<br />

ursprünglicher Werte und Praktiken, in denen zwar möglicherweise<br />

diejenigen anderer Zeiten der Er<strong>neue</strong>rungsbewegung oder des Fundamentalismus<br />

anklingen, die aber tatsächlich eine Reaktion auf die gegenwärtige<br />

Gesellschaftsordnung darstellen. In beiden Fällen ist somit die fundamentalistische<br />

»Rückkehr zur Tradition« in Wahrheit eine Neuerfindung. 21<br />

<strong>Die</strong> antimoderne Stoßrichtung, welche die Fundamentalismen auszeichnet,<br />

lässt sich somit weniger als vormodernes denn als /wsftnodernes Unternehmen<br />

begreifen. <strong>Die</strong> Postmodernität der Fundamentalismen lässt sich in<br />

erster Linie an deren Zurückweisung der Moderne als europäisch­amerikanischer<br />

Hegemonie erkennen ­ und in dieser Hinsicht ist der islamische<br />

Fundamentalismus in der Tat paradigmatisch. Im Kontext islamischer Traditionen<br />

ist der Fundamentalismus insofern postmodern, als er die Tradition

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