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Hardt, Michael & Negri, Antonio - Empire.-.Die neue Weltordnung.pdf

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DIE SOUVERÄNITÄT DES NATIONALSTAATS 125<br />

schaft) eine Dialektik ergeben würde, die dann das Proletariat und seine<br />

fortschreitende Hegemonie in der Gesellschaft begünstigen würde. <strong>Die</strong>ses<br />

Programm ignorierte jedoch die Tatsache, dass der Begriff des Nationalstaates<br />

nicht aufteilbar, sondern vielmehr organisch ist, dass er nicht transzendental,<br />

sondern transzendent ist und sogar in seiner Transzendenz dazu<br />

dient, jede Tendenz auf Seiten des Proletariats, sich gesellschaftliche Räume<br />

und gesellschaftlichen Wohlstand anzueignen, zu unterdrücken. Was<br />

aber konnte dann Modernisierung bedeuten, wenn sie unabdingbar an eine<br />

Reform des kapitalistischen Systems gebunden war und sich jeder Öffnung<br />

des revolutionären Prozesses widersetzte? <strong>Die</strong>se Autoren feierten die Nation,<br />

ohne den Preis für diese Verherrlichung zahlen zu wollen. Oder besser<br />

gesagt: Sie feierten sie, während sie zugleich die destruktive Macht des Begriffs<br />

mystifizierten. Angesichts dessen war die Unterstützung für imperialistische<br />

Projekte und den Krieg zwischen den Imperialmächten für den<br />

sozialdemokratischen Reformismus nur logisch und unausweichlich.<br />

Auch der Bolschewismus begab sich auf das Terrain nationalistischer<br />

Mythologie, vor allem durch Stalins vorrevolutionäres Pamphlet über<br />

»Marxismus und nationale Frage« (Stalin 1913). Nach Stalin sind Nationen<br />

unmittelbar revolutionär, und Revolution bedeutet Modernisierung: Nationalismus<br />

ist eine unvermeidliche Entwicklungsstufe. In Stalins Übersetzung<br />

aber wird der Nationalismus sozialistisch, der Sozialismus wird russisch,<br />

und Iwan der Schreckliche wird neben Lenin zur letzten Ruhe gebettet. <strong>Die</strong><br />

Kommunistische Internationale wird zur »fünften Kolonne« nationaler russischer<br />

Interessen. <strong>Die</strong> Vorstellung von einer kommunistischen Revolution<br />

­ dieses deterritorialisierende Gespenst, das in Europa und der Welt umging<br />

und dem es gelungen war, von der Pariser Kommune bis zu den Revolutionären<br />

in St. Petersburg 1917 und Maos Langem Marsch Deserteure, internationalistische<br />

Partisanen, streikende Arbeiter und kosmopolitische Intellektuelle<br />

zu vereinen ­ wurde am Ende in ein reterritorialisierendes Regime<br />

nationaler Souveränität verwandelt. Es ist als tragische Ironie zu bezeichnen,<br />

dass der nationalistische Sozialismus in Europa dem Nationalsozialismus<br />

ziemlich ähnlich war ­ nicht deshalb, weil sich »die Extreme berühren«,<br />

wie einige liberale Denker gerne glauben, sondern weil das Herzstück<br />

in beiden Fällen die abstrakte Maschine nationaler Souveränität ist.<br />

Als inmitten des Kalten Kriegs der Begriff des Totalitarismus in der Politikwissenschaft<br />

aufkam, berührte er nur äußerliche Elemente dieser Frage.<br />

In seiner kohärentesten Form wurde der Totalitarismusbegriff dazu verwendet,<br />

um die Zerstörung der demokratischen Öffentlichkeit, das Fortwirken

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