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Blumen aus Galiläa - Novertis

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<strong>aus</strong> dem Kinosaal. Doch das Foyer war über und über mit Postern beklebt,<br />

die den selben aufklaffenden Mund zeigten! Es dauerte einige Stunden,<br />

bis wir ihn beruhigen konnten, und dieses Symbol für die Mauer, der grauenvolle,<br />

alles verschlingende Mund, blieb tief in meiner Erinnerung bestehen.<br />

Dieses Bild kam heute mit aller Macht wieder an die Oberfläche, wie<br />

eine Sprungfeder, als ich nach einem schönen Spaziergang in die Mauer<br />

lief. Wir waren viele Stunden gefahren und über die sanften biblischen<br />

Hügel des Hochlands spaziert, durch hohes Gras gewatet, hatten violette<br />

Lupinien gepflückt, einen immer noch Wasser führenden Bach überquert,<br />

in dem freundliche, rundgesichtige, voll bekleidete Jungen und Mädchen<br />

einander und uns stürmisch mit Wasser bespritzten, und kamen im nahe<br />

gelegenen Dorf Anata an ihren Eltern vorbei, die gerade ein Picknick vorbereiteten<br />

und uns ein herzliches salam zuriefen. Wir grüßten einen Mönch,<br />

der gerade seine Einsiedlerkl<strong>aus</strong>e von St. Chariton verließ, und erhielten<br />

seinen Segen, schreckten eine Herde von vier oder fünf scheuen Gazellen<br />

mit weiß gepunkteten Kruppen auf, zündeteten eine Kerze vor dem byzantinischen<br />

Madonnenbild in der Dorfkirche von Taybeh an – eine Kirche,<br />

in der der örtlichen Überlieferung nach Christus seine letzten Tage<br />

vor der Passion verbracht haben soll. Wir tranken das berühmte Taybeh-<br />

Bier vom Fass in „The Stones", einem luftigen zweistöckigen Cafe in Ramallah,<br />

in Gesellschaft eines in Tweed gekleideten Philosophieprofessors<br />

von der Universität Bir Zeit, eines ironisch lächelnden Architekten, eines<br />

heruntergekommenen Juden <strong>aus</strong> England, der dem jungen Noam Chomsky<br />

unheimlich ähnelte, und eines hinreißend schönen französischsprachigen<br />

palästinensischen Mädchens, das im tunesischen Exil aufgewachsen<br />

und in Paris zur Schule gegangen war.<br />

Als wir uns den Schafweiden näherten, stießen wir auf die Mauer. Sie<br />

schnitt durch die sanfte ländliche Gegend um Bethlehem wie ein kolossaler<br />

verdauender Labmagen. Die Natur verschwand in ihm wie Marshmellows.<br />

Dutzende von Raupenfahrzeugen rissen an den Hügeln, entwurzelten<br />

Feigenbäume und Weinpflanzen und zertrümmerten Steinblöcke, als<br />

ob sie einen monströsen Margarita an the rocks mixen wollten. Sie zerstörten<br />

alte Bauernhäuser und mittelalterliche Türme und entblößten die<br />

Hänge, auf denen einst die Heilige Jungfrau wandelte. Die Trasse der Mauer<br />

ähnelte der B<strong>aus</strong>telle einer vierspurigen Autobahn. Auf beiden Seiten wurde<br />

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