Blumen aus Galiläa - Novertis
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DIE MAUER<br />
Wir sahen uns in einem kleinen, schmucklosen und schäbigen<br />
Kino namens „Semadar" – „Weinblüte" – in der malerischen deutschen<br />
Siedlung in Jerusalem Pink Floyds „The Wall" an.<br />
Seit der Vertreibung durch die Juden im Jahr 1948 gibt es hier zwar<br />
keine ethnischen Deutschen mehr, doch man findet in dieser Siedlung<br />
immer noch die mit roten Ziegeln gedeckten alten Steinhäuser, Giebel mit<br />
eingemauerten Tafeln, auf denen in Frakturschrift Psalmen zitiert werden,<br />
Efeu, der sich am Mauerwerk hinaufrankt, und den geheimnisvollen Friedhof<br />
der Tempelritter hinter einem schweren Tor.<br />
„Semadar", benannt nach einem Ausdruck im Lied der Lieder, war ein<br />
bevorzugter Ort als Kulisse für Tonfilme in unserem verlorenen Paradies,<br />
im nostalgisch verzauberten Vorkriegspalästina, als sich hier noch britische<br />
Offiziere und die jungen kosmopolitischen Cliquen, die creme de la<br />
creme der Heiligen Stadt einfanden: Armenier, Griechen, Juden, Deutsche<br />
und einheimische Palästinenser. Hier im kleinen, romantischen Hof<br />
dieses Kinos ereignete sich vielerlei: Zahlreiche Mischehen wurden geschlossen,<br />
Religionszugehörigkeiten und politische Leidenschaften entdeckt.<br />
Die Tochter eines sephardischen Rabbis verliebte sich hier in einen<br />
schottischen Flieger und der Sprössling einer edlen arabisch-muslimischen<br />
Familie traf ein kesses linkes zionistisches Mädchen. „Semadar" hat sich<br />
nicht verändert. Es überlebte unseren Fall, die Teilung, und dient somit als<br />
ewiger Zeuge der Geschichten von Amos Oz, die in Jerusalem spielen –<br />
so wie fossiles Eis die globale Erwärmung überlebt.<br />
„Semadar" war in den 1980er Jahren immer noch ein netter, wenn auch<br />
etwas heruntergekommener Ort für Familien<strong>aus</strong>flüge, in jenen gesegneten<br />
Tagen, bevor Videos, Fernsehen und Computer unsere freie Zeit beschlagnahmten,<br />
und wir gingen oft mit den Kindern ins Kino. Der Film<br />
„The Wall" war jedoch ein Reinfall. In der Mitte des Films erscheint das<br />
schreckliche Bild eines Mundes, der aufklafft, um den Zuschauer zu verschlingen.<br />
Dieser gruselige, formlose, mit Zähnen bestückte Mund erfüllte die<br />
gesamte Leinwand, die über unseren Köpfen hing. Das war zu viel für<br />
unseren siebenjährigen Sohn und er lief mit einem durchdringenden Schrei<br />
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