Traditionen (er)finden 109
Jörn Rüsen Was ist Tradition? Tradition ist eine Frage der historischen Kultur. Nahezu alle Gruppen, Länder, sogar ganze Zivilisationen haben ihre besonderen Traditionen und legen großen Wert darauf, sie zu kultivieren. Tradition wird sichtbar in Monumenten, in Gebäuden, in Straßennamen, in Museen, in Lehrbüchern, in öffentlichen Reden und in vielen anderen Formen öffentlicher Präsentation. Gemeinsames Ziel dieser Repräsentationen ist es, zu bekräftigen, dass man sich an etwas gebunden fühlt, das in der Vergangenheit geschah und für die Zukunft normative Bedeutung hat. Nationen zelebrieren den Tag ihrer Gründung; die damit verbundenen Feierlichkeiten bestätigen zumeist, dass die Menschen sich heute jenen Normen und Werten verpflichtet fühlen, die in dem seinerzeit neu gegründeten politischen System Realität geworden sind. Weit verbreitet sind Werte wie „Unabhängigkeit“ und „Freiheit“; indem Menschen sich gemeinsam daran erinnern, wie diese Werte in ihre Form des Zusammenlebens, ihre gesellschaftliche Formation, aufgenommen wurden, werden sie von den Menschen gegenwärtig – und erfolgreich – als Tradition wiedergegeben. Tradition ist die Idee einer unveränderlichen Essenz in den ansonsten wechselhaften Bedingungen und Umständen des Lebens. Tradition steht nicht nur für Kontinuität, sondern trägt die Dimension des ewig Gültigen in sich. Ein simples Beispiel aus dem Alltag internationaler Werbekampagnen: Mitsubishi wirbt für sein Hochtechnologieprodukt „Automobil“, indem der Konzern sich auf die alte Tradition japanischer Handwerksperfektion bei der Herstellung von Samuraischwertern bezieht. „Der Geist der Perfektion“ weht als unveränderte Tradition durch die jahrtausendealte japanische Geschichte bis zu den neuesten Automodellen von Mitsubishi. Anerkannte Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens sind gleichzeitig empirisch und normativ; sie sind darüber hinaus spezifisch für einzelne Nationen oder Gruppen. Daher unterscheiden sie sich substanziell voneinander. Sie spielen eine wichtige Rolle im kulturellen Leben, hauptsächlich als Grundlage für allgemein akzeptierte Prinzipien. Auf ihnen basiert das 110 Tradition und Identität Theoretische Reflexionen und das europäische Beispiel Im Übrigen mag das Wesentliche einer Tradition, ihre letzte Rechtfertigung darin bestehen, in dem Moment, wo kein Ausweg, keine Zuflucht mehr erkennbar sind, Trost zu spenden, ein Stückchen Traum, einen kurzen Augenblick der Illusion herbeizuzaubern. Saul Friedländer Gefühl, dass man im täglichen und im öffentlichen Leben die gleichen Haltungen teilt und sich an gemeinsame Grundregeln halten sollte. Menschen sind daher sehr bemüht, ihre gemeinsamen Traditionen immer wieder zu bestätigen. Traditionen sind deshalb immer Gegenstand kultureller Aktivitäten und kommunikativer Strategien, die sie lebendig und wirkungsvoll halten sollen. Man kann vier Ebenen unterscheiden, auf denen Tradition und ihre Wirkungsweise sichtbar wird: (1) Die grundlegende Ebene ist die der „unbewussten Dispositionen und Determinierungen“ des täglichen Lebens. Hier erscheint und wirkt Tradition als Selbstverständlichkeit. (2) Auf der Ebene der „alltäglichen Kommunikation“ werden selbstverständliche Traditionen zur Diskussion gestellt und auf neue und ungewöhnliche Situationen angewendet. (3) Diese „reflektierende Legitimation“ von Tradition findet auch noch auf einer anderen Ebene statt, nämlich dort, wo Formen des Zusammenlebens normativ verhandelt werden. Tradition wird dort reflektiert, kritisiert, legitimiert, Vergleichen unterzogen und schließlich sogar verändert. Obwohl Menschen zumeist denken, dass Tradition etwas Unveränderliches und Festes sei, ist sie dennoch Weiterentwicklungen und Veränderungen unterworfen. (4) Auf einer anderen Ebene erscheint Tradition als allgemein akzeptierter Gegenstand offizieller Gedenkfeiern. Hier ist sie ein fest etabliertes und machtvolles Element historischer Kultur, das man als „explizite Selbstverständlichkeit einer verpflichtenden Vergangenheit“ bezeichnen könnte. Im akademischen Diskurs wird dies als „kulturelles Gedächtnis“ bezeichnet (Assmann, J. 1992; Assmann; J. 1995; Assmann, A. 1999).