5 Jahre - Landesinitiative StadtBauKultur NRW
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Konstruktion und Konstruiertheit<br />
Historische Identität ist immer eine Synthese aus Erfahrung aus der Vergangenheit<br />
und Erwartungen an die Zukunft. Sie wird von den beiden konstituierenden<br />
Motiven des menschlichen Denkens über Zeit bestimmt. Husserl<br />
hat sie „Retention“ und „Protention“ genannt (Husserl 1980). In der Alltagssprache<br />
können wir von Gedächtnis und Erwartung sprechen. Das „Gedächtnis“<br />
bezieht sich auf Erfahrungen und die „Erwartung“ steht in Beziehung<br />
zu Zielen, Werten und Normen. Wir alle wissen, dass das Gedächtnis die<br />
Vergangenheit, auf die es sich bezieht, so verändert, dass sie den Interessen<br />
der Person oder der Menschen entspricht, die sich erinnern. Das ist der<br />
Effekt der Erwartung in ihrer Synthese mit dem Gedächtnis. Auf der anderen<br />
Seite ist Identität mehr als das, was Menschen sein wollen. Sie müssen<br />
diesen Wunsch und diese Projektion mit ihrer Selbsterfahrung in Einklang<br />
bringen, und das trifft auf Individuen ebenso zu wie auf Gruppen, Nationen<br />
und Zivilisationen.<br />
So entsteht ein enger Zusammenhang von Tradition und Identität; konstituiert<br />
durch eine sehr spannungsreiche Mischung und Synthese aus Erfahrung<br />
und Normen und Werten, von faktischen Bedingungen und fiktionalen Vorstellungen.<br />
Das menschliche Leben als kultureller Prozess ist eine Errungenschaft<br />
dieser Synthese, die durch die Kräfte des menschlichen Verstandes<br />
hervorgebracht wird. Der Verstand strebt danach, die Beziehung eines Menschen<br />
zu den Anderen unter sich verändernden Bedingungen zu begreifen.<br />
112<br />
Europäische Identität: eine Forderung für die Zukunft<br />
Der andauernde Prozess der europäischen Vereinigung ist<br />
ein faszinierendes Beispiel für die Möglichkeiten und Grenzen<br />
des Schaffens von Traditionen, um neue Identitäten zu<br />
formen. Der Ausgangspunkt für diesen Prozess ist die traditionelle<br />
Dominanz nationaler Identität in nahezu allen<br />
europäischen Ländern. Die verschiedenen europäischen<br />
Nationen zu vereinen bedeutet überhaupt nicht, die Vielfältigkeit<br />
und die Unterschiede der nationalen Identitäten<br />
zugunsten einer einzigen europäischen Identität aufzugeben.<br />
Europäisch zu sein ist etwas ganz anderes. Es ist eine<br />
wechselseitige Beziehung der Nationalitäten, eine Kommunikation<br />
zwischen sehr unterschiedlichen nationalen und<br />
regionalen Traditionen. Damit in Europa ein Gefühl der<br />
Zusammengehörigkeit und Gemeinsamkeit entstehen kann,<br />
muss diese Vielfalt integriert werden. Das Motto dieser Integration<br />
ist von großer Bedeutung: Einheit durch Vielfalt.<br />
Die entstehende historische Identität ist supranational, aber<br />
nicht anti-national. Sie integriert Unterschiede, ohne sie aufzulösen.<br />
Integration bedeutet, dass diese Merkmale und<br />
Strukturen der nationalen Identität, die eine stark exklusive<br />
Natur haben, so verändert werden müssen, dass die nationalen<br />
Traditionen eine supranationale Gemeinsamkeit<br />
einschließen. Diese europäische Zusammengehörigkeit muss<br />
eine starke normative Logik aufweisen, wenn sie zu einer<br />
allgemein gültigen Logik von Identitätsbildung, die an Tradition<br />
gekoppelt ist, heranreifen soll. Was passiert in diesem<br />
Integrationsprozess auf der Ebene der identitätsbildenden<br />
Traditionen?<br />
Zuerst muss die aggressive Exklusivität der traditionellen<br />
nationalen Identität zugunsten eines inklusiven Nationalismus<br />
überwunden und verändert werden. Dies ist ein sehr<br />
wichtiger Aspekt in der Logik historischer Sinngenerierung<br />
und Identitätsbildung (Rüsen 2000). Exklusiver Nationalismus<br />
ist ein sehr eindrucksvolles Beispiel für die weit verbreitete<br />
und tief verwurzelte Art der historischen Sinngenerierung<br />
und Identitätsbildung, die man als „Ethnozentrismus“<br />
bezeichnen kann. Die Bedrohung durch den Ethnozentrismus<br />
und seine permanente Gefahr resultieren aus kulturellen<br />
Prozessen, die problematische, störende, irritierende,<br />
unterdrückte Elemente dem Bild der Anderen zuschreiben.<br />
Indem man die negativen Elemente des eigenen Selbst in<br />
die Andersartigkeit der Anderen exterritorialisiert, wird die<br />
identitätsbildende Vorstellung vom eigenen Volk untrennbar<br />
auf die Andersartigkeit der Anderen fokussiert.